• Hilja Hoevenberg an ihrem Schreibtisch im Kriminaltechnischen Institut.

    Der Reiz des Unbekannten

Menschen wie Hilja Hoevenberg kennt man sonst nur aus Ermittler-Serien: Als „Sachverständige für Personenidentifizierung und Gesichtsweichteilrekonstruktion“ am Kriminaltechnischen Institut (KTI) des Landeskriminalamts (LKA) Berlin forscht sie auf einem Gebiet, das Anthropologie und Anatomie lange Zeit ad acta gelegt haben: Sie rekonstruiert die Gesichter unbekannter Opfer. Im engen Austausch steht sie dabei auch mit dem Institut für Anatomie der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Ihre Forschung hilft nicht nur den ermittelnden Kolleginnen und Kollegen, sondern auch den Angehörigen der Opfer.

Im November 1988 fand man im Spandauer Stadtforst die bereits halbskelettierte Leiche einer Frau. Sie lag in einer Grube, die offenbar von Tieren aufgewühlt worden war. Der Leichnam war in einen Jutesack gewickelt, um den Hals zwei kurze Kunststofftaue. Die Frau war offenbar ermordet worden. Wie und warum sie ums Leben kam, ist bis heute nicht geklärt. Ebenso wenig, wer sie war. Bis heute sucht das Bundeskriminalamt nach Hinweisen: Auf der Seite der internationalen Fahndungskampagne „Identify Me“ ist sie als eine von 45 unbekannten Frauen gelistet, die ermordet wurden oder unter ungeklärten Umständen gestorben sind. Auch ein rekonstruiertes Porträt der Spandauer Toten ist dort zu sehen. Darunter der Hinweis „Auf den Schädel wurde eine Gesichtsweichteilrekonstruktion modelliert.“

2025 wurde dieser „Cold Case“ erneut aufgenommen. Die zuständige Mordkommission beantragte beim Kriminaltechnischen Institut (KTI) des Landeskriminalamts (LKA) Berlin neue Untersuchungen, unter anderem eine neue Gesichtsrekonstruktion auf Grundlage der Untersuchungsergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Korrelationen zwischen Knochenstrukturen und Weichteilgewebe der Kopf/Halsregion“. Hilja Hoevenberg betreut das Projekt am KTI. Glatte blonde Haare, schwarzes T-Shirt, das Gesicht ungeschminkt: die „Sachverständige für Personenidentifizierung und Gesichtsweichteilrekonstruktion“ wirkt offen und zugleich sehr engagiert: „Bei der Personenidentifizierung geht es sowohl um Opfer als auch um Täter. Ich vergleiche morphologische Merkmale anhand von Bildaufnahmen, um Personen zu identifizieren“, erläutert sie. Hilja Hoevenberg ist eine von rund 470 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des größten Kriminaltechnischen Instituts Deutschlands. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Bereichen wie Physik, Chemie, Biologie, Biochemie, Psychologie und Linguistik unterstützen ihre Kolleginnen und Kollegen bei der Arbeit am Tatort und der Spurensicherung. Und sie forschen in interdisziplinär angelegten Projekten gemeinsam mit Technikspezialistinnen und -spezialisten an neuen Lösungen und Methoden zur Aufklärung und Prävention von Verbrechen. Dabei arbeiten sie international vernetzt mit Behörden, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen zusammen. Hilja Hoevenberg ist mit ihrem Projekt als Gastwissenschaftlerin an das Institut für Funktionale Anatomie der Charité – Universitätsmedizin Berlin angebunden – und betritt damit eine in der Fachwelt lange aufgegebene Forschungsnische.

Bach und Neandertaler – frühe Versuche floppten

„Die Idee, Körperweichteile anhand von knöchernen Überresten zu rekonstruieren, geht zurück auf Georges Cuvier, Mitbegründer der Zoologie und der Vergleichenden Anatomie. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schlug er vor, unvollständige fossile Skelette zu ergänzen und die dazugehörigen Muskeln aus den Knochenstrukturen abzuleiten und zu modellieren, um einen Eindruck vom Typus einer bestimmten fossilen Tierart zu bekommen“, erläutert Hoevenberg. Cuviers Idee wurde nach 1850 von anderen aufgegriffen. Das damalige Problem: Man arbeitete mit metrischem Verfahren und kombinierte die Messwerte mit statistischen Daten. So entstanden recht pauschale Kategorien: „typische Einzelmaße“ verschiedener Körperteile, aus denen „Rassetypen“ oder „Geschlechtstypen“ bestimmt wurden. Diese Durchschnittswerte wurden auch zur Identifikation von Individuen genutzt, was nur bedingt funktionierte.

Spannendes Beispiel: 1894 beauftragte die Stadt Leipzig den Anatomen Wilhelm His damit, das Skelett eines Mannes zu identifizieren, das bei Erweiterungsarbeiten an der Johanniskirche gefunden worden war. Man vermutete, dass es sich um den Komponisten Johann Sebastian Bach handeln könne. His fertigte ein Knochengutachten an und verglich den Schädel mit Porträtgemälden von Bach, die allerdings erst nach dem Tode des Komponisten entstanden waren. Der Bildhauer Carl Ludwig Seffner schuf auf dieser Basis eine „Reproduction von Bach’s Zügen über den Schädelabguss“ und bezog sich dabei auf errechnete Durchschnittswerte aus Weichteildickenmessungen an acht gesunden älteren männlichen Leichen. Das Ergebnis übertraf laut His zwar „an Leben und charaktervollen Ausdruck jedes einzelne der Bilder“ – war aber eher ein künstlerisches Werk als eine wissenschaftliche Rekonstruktion des Komponistenkopfes.

Ähnlich erging es dem „Neandertaler aus La Chapelle-aux-Saints“: Wissenschaftler aus aller Welt versuchten Anfang des 20. Jahrhunderts das Gesicht des Steinzeitmenschen anhand seines 1908 in Frankreich gefundenen, fragmentierten Schädels zu rekonstruieren. Die Ergebnisse fielen vollkommen unterschiedlich aus. Dies veranlasste den deutschen Anatomen Heinrich von Eggeling, die Genauigkeit der Gesichtsrekonstruktion anhand von Weichteildurchschnittswerten zu überprüfen. Wie andere seiner wissenschaftlichen Zeitgenossen kam von Eggeling zu dem Schluss, dass auf dem Schädel lediglich der anthropologische Typus rekonstruiert werden könne, nicht aber individuelle Gesichtszüge. „Um 1930 wurde die Tür in der Forschung zur Gesichtsweichteilerekonstruktion im Grunde dicht gemacht“, so Hoevenberg. „Die numerische Methode mit Durchschnittswerten hatte sich als nicht erfolgversprechend für eine Rekonstruktion des individuellen Gesichts erwiesen.“

Mit Hollywood zurück ins Rampenlicht

Das Thema lag brach. Erst der US-Thriller „Gorky Park“ rückte die Gesichtskonstruktion 1983 wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit: In dem Film werden drei Leichen mit entstellten Gesichtern mittels wissenschaftlicher Nachbildungen identifiziert. 1993 formulierte die russische Anthropologin Natalia Lebedinskaya in ihren „Principles of Facial Reconstruction“ zwei ungelöste methodische Hauptprobleme: die Wechselbeziehung zwischen Weichteilgewebe und Knochenstrukturen sowie fehlende verbindliche Formbestimmungsregeln.

Hier setzt Hilja Hoevenbergs Forschung an. Den Anstoß zu ihrem heutigen Projekt am KTI gab ein realer Fall: „2003 wurde im Hafen von Wittenberge eine Wasserleiche gefunden, die nicht identifiziert werden konnte. Die Kollegen haben sich bei mir erkundigt, ob ich das Gesicht rekonstruieren könne. Ich habe zunächst eine ausführliche Literaturrecherche gemacht und dann beim Institut für Anatomie der Charité angefragt, ob eine Zusammenarbeit im Rahmen einer Masterarbeit möglich wäre. Der damalige Leiter, Prof. Dr. Robert Nitsch war sehr hilfsbereit und ermöglichte mir, an den Körpern von Spendern systematisch zu arbeiten. Daraus entstand dann das heutige Forschungsprojekt.“

Vier Jahre lang präparierte Hilja Hoevenberg und suchte nach Korrelationen zwischen Knochenstrukturen und Weichteilgewebe. Von dort aus ging es an die Formulierung von Formbestimmungsregeln. „Die Regeln wurden in Blindversuchen überprüft und anfangs nicht bestätigt, ich habe gelernt enttäuschungsresistent zu sein“, erinnert sie sich. Eine erste wesentliche Erkenntnis ihrer Forschungsarbeit: „Wenn man die Kopf- und Halsregion so rekonstruieren möchte, dass ein individuelles Gesicht dargestellt wird, ist es wichtig, den gesamten ‚Bauplan' in seinen Einzelteilen nachzuformen. Dieser sollte anschließend Teil für Teil zusammengesetzt werden.“

Akribische Detailarbeit

In ihrer Rekonstruktionsarbeit achtet Hilja Hoevenberg darauf, alles, was an und bei der Leiche aufgefunden wird, sehr genau zu befunden. „Sobald die Rechtsmedizin die Todesursache untersucht hat, mache ich die Präparation. Ich schaue nach Forminformationen, notiere und fotografiere.“ Nachdem das Weichteilgewebe vom Schädel entfernt (mazeriert) wurde, wird die Rekonstruktion Stück für Stück aufgebaut: Muskel für Muskel, Knorpel für Knorpel. Anschließend werden Fettschichten aufgebracht und zum Schluss die Haut. Hoevenberg: „Das ist dann Modelliermasse, deren haptische Eigenschaften denen der Haut entsprechen. Die Muskeln werden aus Wachs geformt.“ In dieser Arbeitsphase kommt der gebürtigen Niederländerin ihr früheres Studium der Bildhauerei und Malerei sehr zugute. „Für die menschliche Wahrnehmung sind auch haptische Gestaltinformationen wichtig: ob etwas weich oder hart ist, glänzend oder stumpf erscheint, rau oder glatt ist. Das versuche ich in meiner Arbeit so weit wie möglich zu berücksichtigen.“ Um die Leiche für eine Rekonstruktion befunden zu können, arbeitet Hoevenberg – je nach Fall – mit Zahnärztinnen oder Zahnärzten oder anderen Fachärztinnen oder Fachärzten zusammen.

Mit ihrer Forschung ist Hilja Hoevenberg eine Wegbereiterin. Sie hilft nicht nur den Kolleginnen und Kollegen in der polizeilichen Ermittlungsarbeit, auch für die Transplantationsmedizin könnten die Ergebnisse ihrer Arbeit interessant sein. Durch wissenschaftliche Schwarmintelligenz hofft sie das Thema weiter voranzubringen. Denn, so ihr Resümee: „Interdisziplinärer Austausch ist auch für die Forschung auf dem Gebiet der Gesichtsrekonstruktion entscheidend.“

Autorin: Ernestine von der Osten-Sacken

 

 

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