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21.07.2020„Jetzt schlägt die Stunde der Innovator*innen“
Geisterspiele vor leeren Rängen, virtuelle Marathons und Eventverschiebungen. Die Corona-Pandemie hat für die Sportwelt einschneidende Veränderungen mit sich gebracht. Mit den Auswirkungen der Krise auf den Spitzen- und Breitensport, aber auch mit möglichen Chancen, die sich durch die veränderten Rahmenbedingungen ergeben, beschäftigt sich Prof. Dr. Gabriele Mielke. Die Brain City Berlin-Botschafterin ist Vizepräsidentin der VICTORIA International University of Applied Sciences und leitet dort den Masterstudiengang Business Management & Development. Ein Forschungsschwerpunkt der ehemaligen Handball-Bundesliga-Spielerin ist das Sport- und Eventmanagement.
Prof. Dr. Gabriele Mielke
Vizepräsidentin der Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur (HWTK)
Frau Prof. Mielke, aufgrund der Corona-Pandemie werden die Olympischen Sommerspiele in Tokio auf 2021 verschoben. Eines ihrer Forschungsprojekte beschäftig sich aktuell mit dem Thema.
Korrekt. Am 24. Juli 2020 hätte das Olympische Feuer in Tokio feierlich entzündet werden sollen. Doch Corona hat auch das größte Sportfest der Welt in diesem Jahr gestoppt. Die Olympischen Spiele sollen im Sommer 2021 nachgeholt werden. Wie realistisch das angesichts einer Pandemie ist, die weltweit immer noch nicht kontrolliert werden kann, ist derzeit noch völlig unklar. Ebenso, welche Auswirkungen die Verschiebung haben wird. Um sie messbar zu machen und anhand eines von mir entwickelten Modells zu identifizieren, ziehen wir methodisch einen „Bottom-Up“-Ansatz heran.
Was heißt das in diesem Zusammenhang?
Sämtliche auf das Event bezogene Veränderungen und strategische Maßnahmen betrachten wir als ‚Event-Legacy’. Die Daten erheben wir sowohl sekundär mittels Dokumentenanalysen als auch primär – durch qualitative Beobachtungen sowie teilstandardisierte qualitative Interviews. Fragen nach den sozioökonomischen Auswirkungen der coronabedingten Verschiebung können wir dadurch ebenso beantworten wie konkrete Fragen zur geplanten Ausrichtung der Spiele im kommenden Jahr. Etwa: Was bedeutet die Verschiebung der Olympischen Spiele für die Stadt Tokio? Oder: Ist von einer Kostenexplosion auszugehen?
Inwiefern spielt der Wissenstransfer zwischen Forschung und Praxis in Ihrer Arbeit eine Rolle?
Das Spannendste an meiner Forschung ist der konkrete Anwendungsbezug durch einen umsetzungsorientierten Wissenstransfer. Handlungsimplikationen, die sich aus meiner Forschung ergeben, werden von den beteiligten Akteur*innen umgesetzt. Die Ergebnisse aus Zuschauer- oder Besucherbefragungen helfen beispielsweise, Angebote besser auf die Bedürfnisse der Konsument*innen auszurichten. Und Erkenntnisse darüber, wie sich Sportereignisse jeweils auf die austragende Destination auswirken, sind eine wichtige Grundlage für sport- stadt- und wirtschaftspolitische Entscheidungen. Gleichzeitig kann ein Transfer in die Lehre hergestellt werden. Häufig binden wir Studierende in die Forschungsprojekte ein, damit sie sich bereits während des Studiums mit der Praxis vernetzen können. Unter anderem sind so schon zahlreiche Projekte mit Berliner Sportvereinen und Institutionen entstanden, beispielsweise mit den Füchsen Berlin und den Eisbären Berlin.
Welche Auswirkungen werden die pandemiebedingten Veranstaltungs-Ausfälle in diesem Jahr auf den Leistungssport haben?
Das ist so pauschal derzeit nicht zu beantworten. Viele Akteure im Spitzensport haben schnell reagiert, individuelle Ideen und Lösungen für das Training zu Hause entwickelt und über soziale Medien gepostet. Sie bieten zum Beispiel simultanes oder zeitversetztes ‚Distance Coaching’, digitale Trainingstagebücher oder virtuelle Trainingsgruppen an. Virtuelle Wettkämpfe wie sie beispielsweise über die German Cycling Academy stattfinden, virtuelle Trainingsgruppen und kreative Wettkampfformate wie ‚Distance Competitions’ können die Wettkampfhärte erhalten. Weitere kreative Lösungen sind jetzt gefragt. Allerdings wird durch die derzeitigen Einschränkungen tiefgreifend in laufende Sponsoringverträge eingegriffen. Es ist daher davon auszugehen, dass Sponsoren bereits geleistete Zahlungen ganz oder teilweise zurückfordern oder ihr Engagement zurückziehen werden. Und damit geht es um Geld. Viel Geld, was für manchen Verein existenzbedrohend sein kann.
Was wird sich Ihrer Meinung nach marktspezifisch ändern müssen?
Das Coronavirus verändert den Sport weltweit und zwar mit rasanter Geschwindigkeit – wie ein Katalysator. Jetzt ist es nötig, schnell, treffsichere Lösungen für komplexe Herausforderungen und unter unscharfen Rahmenbedingungen zu finden. Das heißt auch: Jetzt schlägt die Stunde der Innovator*innen. Es ist die Zeit für Veränderungen und kreative Lösungsfindung. Gefragt sind vor allem mehr Veranstaltungen, die online stattfinden: Sportartsimulatoren, Augmented Training durch Immersion, motivierende Animationen und Dokumentation. Das geht bis hin zu KI-Lösungen wie individualisierte virtuelle Trainingsangebote oder KI-Trainersupport. Da der Lockdown so bald nicht komplett aufgehoben sein wird und weitere Pandemie-Wellen erwartet werden, wäre es jetzt an der Zeit, solche Projekte mit pragmatischem Nachdruck anzuschieben.
Zeichnen sich dauerhafte Event-Verschiebungen ins Netz ab? Anders gefragt: Werden wir den Berlin Marathon künftig daheim laufen müssen?
Nein, dazu wird es nicht kommen. Von einer disruptiven Entwicklung ist nicht auszugehen. Vielmehr wird es auch in Zukunft ein Nebeneinander von Analog und Digital geben. Auch wenn in der Corona-Krise alternative Lösungen gefragter denn je sind, tendieren Menschen gerade jetzt dazu, ihre Gewohnheiten aufrecht zu erhalten.
Jede Krise bringt ja bekanntlich auch Chancen mit sich. Welche Chancen könnten sich für den Spitzensport aus der Corona-Krise ergeben?
Die Krise bietet die Chance auf ein Umdenken, zur Rückbesinnung auf die ursprüngliche Idee des Sports als bewegendes soziales Miteinander. Mit Bescheidenheit, Fairness, Respekt vor Spieler*innen und Zuschauer*innen, Achtsamkeit und Gesundheit. Kommerz, Doping und Gigantismus könnten zu Relikten der Vor-Corona-Zeit werden. Das muss von Verbänden, Veranstaltern und Politik allerdings gelebt und belebt werden. Eine Bereitschaft, denen zu helfen, die unverschuldet in Not geraten sind, scheint bereits gegeben. Beispiele sind Aktionen wie #WEKICKCORONA oder der Corona-Hilfsfonds des Fußballclubs TSG Hoffenheim. Und es gibt die 20-Millionen-Hilfsaktion der vier deutschen Champions-League-Clubs sowie freiwilligen Gehaltsverzicht von Profisportler*innen. Das alles ist positiv.
Berlin gilt weltweit als Sportmetropole. Welche Impulse kann die Sportstadt Berlin in der derzeitigen Situation geben?
Sport vermittelt Werte und bringt Menschen zusammen. Berlin hat darin eine lange Tradition. Sowohl im Leistungssport als auch im Breitensport mit seinen vielen kleinen Vereinen. Die Unterstützung des Sports ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Berlin befindet sich hier auf einem guten Weg. Die Chance der Krise liegt darin, dass die Stadt alles Trennende überwindet und sich auf die Vorteile aktiver Gemeinsamkeit und Verantwortung besinnt. Sport als Zukunftsfaktor sollte noch stärker in das öffentliche Bewusstsein der Stadt rücken.
Zum Schluss eine persönliche Frage: Hilft Ihnen als ehemaliger Leistungssportlerin der sportliche Hintergrund in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit?
Man lernt durch den Leistungssport, sich immer wieder zu disziplinieren und eigene Grenzen zu überwinden. Aufgeben gibt’s nicht. Das hilft auch in der Forschung. In der Wissenschaft sind der Leistungsdruck und die Erwartungshaltung an junge Menschen in den letzten Jahren stetig gestiegen. Wer vorankommen und persönlich erfolgreich sein möchte, muss Dauerbelastungen gut aushalten können und eine entsprechend hohe Frustrationstoleranz mitbringen. Ein im hohen Maße eigenverantwortliches Handeln ist sowohl im Sport als auch in der Wissenschaft eine wesentliche Schlüsselkompetenz. Ich hatte das Glück, meine Leidenschaft zum Beruf machen zu können. Und durch meine Arbeit kann ich andere Menschen an der Faszination der Forschung teilhaben lassen. (vdo)