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25.02.2021Wissenschaft im Austausch mit der Stadt
Der Wissenstransfer zwischen Forschung und Gesellschaft trägt die Forschungsarbeit in die Praxis und in den Kiez. Die StadtManufaktur Berlin vereint Projekte der TU Berlin unter einem Dach. Langfristiges Ziel dieser „offenen Laborsituation“: die Stadt im experimentellen Austausch mit den Bürger*innen nachhaltig lebenswerter zu machen – und in der Brain City Berlin eine transformative Wissenschaft auf den Weg zu bringen.
Urban Farming, neue Mobilitätskonzepte, innovatives Wasserbewirtschaften oder Erlebnis-Campus – die Projekte, die unter dem Dach der StadtManufaktur Berlin zusammengefasst werden, sind vielfältig. Und jeder kann mitmachen. Im Sommer 2020 ging die gemeinsame Initiative der Technischen Universität Berlin (TU Berlin), des Zentrum Technik und Gesellschaft (ZTG) der TU Berlin und des Einstein Center Digital Future offiziell an den Start. Das Besondere an der Plattform: sie bündelt ausschließlich Projekte der TU Berlin in einem experimentellen Beteiligungsnetzwerk, um Forschung und Stadtgesellschaft projektbezogen in einer „offenen Laborsituation“ näher zusammenzubringen und auf diese Weise einen Erfahrungs- und Ideenaustausch herzustellen.
„Es geht uns darum, vorhandene Transformationsprozesse in der Stadt wissenschaftlich zu unterstützen bzw. durch die Wissenschaft Prozesse auf den Weg zu bringen – und so eine positive Veränderung innerhalb des Stadtraums zu bewirken“, erläutert Prof. Dr. Gabriele Wendorf, Wissenschaftliche Geschäftsführerin des ZTG. Übergeordnete Zielsetzung der StadtManufaktur: Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung sichtbar zu machen und sie in Projekten „auf die Straße“ zu bringen. Adressat*innen der StadtManufaktur sind Wissenschaftler*innen, Bürger*innen, aber auch Akteur*innen aus Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Kunst und Kultur. Kurz: die Berliner Zivilgesellschaft und die Wissenschaft im Gespräch auf Augenhöhe.
Die Projekte, die auf der digitalen Plattform unter dem Dach der StadtManufaktur in den vier Themenfeldern „Klimatische Resilienz“, „Energiewende“, „Zirkuläres Wirtschaften“ und „Transformationswissen“ zusammengefasst sind, verstehen sich als „Reallabore“: als urbane Experimentierräume, in denen Ideen entwickelt, ausprobiert, umgesetzt und wissenschaftlich begleitet werden können. Die Wissenschaftler*innen der TU Berlin arbeiten dabei gemeinsam mit Akteur*innen der Stadtgesellschaft eng zusammen, die wiederum ihr Erfahrungs- und Praxiswissen einbringen; digitale und analoge Beteiligungsansätze sind eng miteinander verwoben.
Reallabor-Projekte sind experimentell und meist kiezbezogen
„Die Beteiligung, die wir andenken, reicht recht weit. Externe Akteur*innen können in den Projekten nicht nur mitsprechen, sondern Forschungsthemen auch mitformulieren“, sagt Dr.-Ing. Anja Steglich, Referentin für urbane Transformation und Transfer im Präsidium der TU Berlin und Koordinatorin der StadtManufaktur Berlin. Eines der Reallabore, das in Berlin die Weichen in Richtung nachhaltiger Wandel stellen könnte, ist das seit 2016 laufende Projekt „Neue Mobilität Berlin“ (NMB).
Auf der Charlottenburger Mierendorff-INSEL und auf dem Klausenerplatz werden in diversen Teilprojekten exemplarisch die Mobilitätsbedürfnisse von Anwohner*innen erforscht. Es geht darum, gemeinsam neue Lösungsansätze für eine nachhaltige, lokale Mobilität zu entwickeln und die Lebensqualität im Kiez zu steigern. In einer Beachvolleyball-Anlage im Gleisdreieckpark untersuchen Wissenschaftler*innen und Anwohner*innen gemeinsam, wie Regen und Duschwasser partizipativ und produktiv aufbereitet werden kann. Und mit dem „Haus der Statistik“ am Alexanderplatz arbeitet die TU Berlin an einem Projekt zum Thema „Zirkuläres Wirtschaften“.
Der gemeinsame Nenner sämtlicher StadtManufaktur-Projekte: Sie sind experimentell und im Idealfall in verschiedenen Stadtteilen verortet. „Wir versuchen, die Projekte nach bestem Wissen und Gewissen zu begleiten. Und auch zu schauen: Wie kann man gewonnene Erfahrungen und Ergebnisse institutionalisieren, generalisieren und publizieren“, so Anja Steglich.
Sensibilität in der Ansprache der Beteiligten
Lokale Akteur*innen anzusprechen und sie in den Prozess aktiv mit einzubeziehen, erfordere allerdings viel Sensibilität, so die Erfahrung von Gabriele Wendorf. „Man muss sehr behutsam vorgehen und sich im Vorfeld die Interessenlage vor Ort genau vor Augen führen. Wenn es um Veränderungsprozesse in der Stadt geht, hilft es sehr, Vorgespräche zu führen – mit dem Bezirks- und dem Ordnungsamt, mit Mobilitäts- und Bürgerinitiativen und auch mit Gewerbetreibenden. Und es ist wichtig, ‚Verbündete’ zu suchen.“
Auf der Mierendorff-INSEL beispielsweise suchte „Neue Mobilität Berlin“ nach Freiwilligen, die ihr Auto in ein Parkhaus umparkten, das sie umsonst nutzen durften. Dadurch wurde Parkraum frei, der im Rahmen des Projekts zur Steigerung der Aufenthaltsqualität im Kiez genutzt werden konnte. „Damit haben wir denjenigen, die gegen uns argumentieren wollten, von vornherein den Wind aus den Segeln genommen“, sagt Gabriele Wendorf und ergänzt: „Das ist eine Ebene wissenschaftlicher Arbeit, die vielleicht nicht allen vertraut ist und die auf jeden Fall auch Kontroversen beinhaltet. Aber sie ist sehr wichtig, insbesondere, wenn sie Veränderungsprozesse anstößt. In gewisser Weise geht es bei den Transformationsprojekten darum, das ‚Stadt-Erproben’ zu lernen. Und das betrifft alle Akteure, auch uns Wissenschaftler*innen."
Forschung und Stadtgesellschaft profitieren gleichermaßen
Ein wesentlicher Vorteil dieser Art des Wissenschaftstransfers: Er funktioniert in beide Richtungen. Denn über den Austausch und die Zusammenarbeit mit den Bürger*innen in den Reallaboren wird nicht nur Wissen aus dem Elfenbeinturm in die Stadt gebracht – frische Ansätze und Ideen befruchten die wissenschaftliche Arbeit auch von außen. „Der Austausch ist auf keinen Fall ein einseitiger Transfer“, betont Anja Steglich: „Die StadtManufaktur hört der Stadtgesellschaft zu. Sie bietet experimentellen Projekten und Prozessen aus allen Bereichen des Stadtalltags eine Plattform, die die Nähe zur Wissenschaft suchen.“ Hinzu kommt: Erfahrungen, die von den Forscher*innen der TU Berlin über die Arbeit in den Reallaboren gewonnen wurden, können sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis weitergegeben werden.
Um Ergebnisse auch überregional nach außen zu tragen, steht die Berliner StadtManufaktur außerdem bundesweit im intensiven Austausch mit Reallaboren in anderen Städten. Erste Resultate sprechen schon jetzt für den Ansatz, Bürger*innen in wissenschaftlichen Projekte einzubinden – und das sowohl analog als auch digital. Anja Steglich: „Die Ergebnisse sind besser, bewusster, geeigneter, krisensicherer. Sie sind die Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit.“
Eine neue Form der Wissenschaft
Für die beteiligten Wissenschaftler*innen bedeutet das Verlassen der klassischen Pfade ein Umdenken. Das ist nicht immer ganz einfach, wie Gabriele Wendorf aus eigener Erfahrung weiß: „Eigentlich benötigen wir für den Prozess Transformationsexpert*innen. Viele Wissenschaftler*innen übernehmen heute in Transferprozessen Aufgaben, die niemals gefördert werden. Das selbstbewusst als eine neue Form der Wissenschaft zu verkaufen, ist nicht so einfach. Dabei ist diese Arbeit genauso exzellent wie das, was wir im elitären Sinne als exzellent verstehen. Da ist ein tiefgreifender Wandel im Gange – bis hin zum Thema Forschungsförderung.“ (vdo)