• Porträts von Swen Hutter und Gesine Höltmann

    Polarisierung und Zusammenhalt in der Corona-Krise: ein Blick in die Zivilgesellschaft

Mehr Polarisierung bedeutet gleichzeitig weniger Zusammenhalt – das suggeriert die öffentliche Debatte. Ein Blick auf die Zivilgesellschaft und das bürgerschaftliche Engagement während der Corona-Krise zeigt allerdings, wie stark diese beiden Dynamiken miteinander verschränkt sind. Anzeichen, die in die eine oder andere Richtung deuten, sollten daher nicht vorschnell interpretiert werden.  Ein Gastbeitrag von Gesine Höltmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung (eine gemeinsame Initiative des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und der Freien Universität Berlin) und Swen Hutter, stellvertretender Direktor des Zentrums und Professor für politische Soziologie an der Freien Universität Berlin. 

Gesellschaftliche Krisen – seien sie ökonomischer, naturbedingter oder sozialer Art – haben stets zwei Gesichter: Primär haben Krisen eine destruktive, oft polarisierende Wirkung. Sie zerstören Existenzen, verfestigen oder verschlimmern bestehende Ungleichheiten oder schaffen starke Vertrauensverluste in Politik und Regierungen. Inmitten dieser gesellschaftlichen Ausnahmezustände finden sich jedoch stets auch Lichtblicke, wie wir es bei Naturkatastrophen, bei der basisdemokratischen Mobilisierung im Rahmen der Finanzkrise oder auch nach der Ankunft zahlreicher Geflüchteter in Deutschland 2015 erlebt haben. Wiederholt sehen wir, dass Krisen unterschiedlichster Art Momente der Solidarität, des Zusammenhaltens und gelebter Hilfsbereitschaft sein können.

Anders als in vorangegangenen Krisen besteht in der gegenwärtigen Pandemie jedoch die berechtigte Sorge, dass Kontaktbeschränkungen und das temporäre Aussetzen von öffentlichem Leben die Zivilgesellschaft nicht nur kurzfristig eingeschränkt haben, sondern auch mittel- und langfristig verändern werden. Im Forschungsprojekt „Potenziale der Zivilgesellschaft“ (SolZiv) untersuchen wir deshalb Ausmaß und Bedingungen solidarischen Verhaltens in zivilgesellschaftlichen Formen während der Corona-Pandemie. In diesem Beitrag stellen wir unsere ersten empirischen Ergebnisse vor und diskutieren, was die zivilgesellschaftliche (De-)Aktivierung im Rahmen der Corona-Krise für Polarisierung und gesellschaftlichen Zusammenhalt bedeuten könnte.

Zunächst lässt sich festhalten, dass sich die Sorge um einen kompletten Stillstand von sozialem und politischem Engagement rasch erübrigt hat. Nachbar:innen und freiwillige Helfer:innen ließen sich durch die Kontakteinschränkungen nicht davon abhalten, für andere einkaufen zu gehen, Gabenzäune zu errichten und sich zu organisieren. Auch im Bereich des politischen Engagements zeigten sich schnell kreative Formen von Protest – Gastronom:innen bevölkerten den öffentlichen Raum mit leeren Stühlen, und Fridays for Future rief zum Online-Protest auf. Gleichzeitig konnte sich die Querdenker Bewegung mit ihrem lautstarken Widerspruch gegen die Corona-Maßnahmen durch klassische Proteste etablieren. Diese Berichte von Solidarität und Protest sollten uns jedoch nicht sofort beruhigen. Stattdessen müssen wir uns fragen: Wie nachhaltig ist dieses Engagement? Welche Veränderungen beobachten wir schon jetzt für das soziale Kapital der Gesellschaft, und wird die Zivilgesellschaft auf womöglich noch nicht sichtbare Weise dauerhaft beeinträchtigt – oder auch bereichert?

Großer Bedarf an Unterstützung

Anzeichen für einen gestärkten Zusammenhalt in der Corona-Krise sehen wir vor allem in der Aktivierung von individuellem prosozialem Handeln: Rund sechzig Prozent der Befragten haben im Zeitraum März bis Oktober 2020 Menschen außerhalb ihres Haushalts Unterstützung angeboten. Ein Großteil davon hat für andere Menschen Einkäufe erledigt, Kinder betreut, oder sie im Alltag unterstützt. Zu Beginn der Krise gab es sogar mehr Unterstützungsangebote als tatsächlich in Anspruch genommen wurden. In erster Linie wurde jedoch dem eigenen sozialen Umfeld geholfen: Die große Mehrheit (82 Prozent) hat Freunde und Familie unterstützt sowie Nachbar:innen (50 Prozent) – nur 15 Prozent haben Personen unterstützt, die sie vor der Corona-Krise nicht kannten. Dem „kleinen Wir“ kommt in der Bewältigung der Krise und in der Stärkung von lokalem Zusammenhalt somit eine primäre Rolle zu.

Inwieweit diese Hilfsbereitschaft den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken kann, hängt auch davon ab, ob die vielen Unterstützungsangebote der Nachfrage gerecht werden konnten. Unsere Ergebnisse zeigen, dass rund ein Viertel der deutschen Bevölkerung Unterstützung von Menschen außerhalb ihres Haushalts erhalten hat, wobei ein Drittel dieser Unterstützungsbeziehungen in der Krise neu entstanden ist. Jede:r Zehnte gibt an, dass er oder sie mehr Unterstützung gebraucht hätte, und rund die Hälfte davon hat keinerlei Unterstützung erhalten.

Der Bedarf in der Bevölkerung ist nicht nur stark sozioökonomisch strukturiert – auch die zusätzliche Krisenbelastung durch Corona-Infektionen im Haushalt, Pflegeverpflichtungen und Kinderbetreuung wird sichtbar. Außerdem beobachten wir, dass für Unterstützung während der Pandemie ein großes soziales Netzwerk von Vorteil war. Im Umkehrschluss sind die Bedürfnisse von Menschen, die weniger gut sozial eingebettet sind, eher unbemerkt geblieben. Auch auf der „Nehmer-Seite“, so stellten wir fest, war das persönliche Umfeld die primäre Quelle von Unterstützung, während Nachbar:innen, Fremde und zivilgesellschaftliche Organisationen eine eher komplementäre Rolle eingenommen haben.

Abbildung 1: Von wem haben Sie während der Corona-Pandemie Unterstützung erhalten? (Höltmann/Hutter)

Organisierte Zivilgesellschaft mit Wucht getroffen

Über die spontane Hilfsbereitschaft hinaus sollten wir auch die organisierte Zivilgesellschaft ins Auge fassen: Gerade die kollektiven Orte des Engagements haben eine besondere Relevanz für das Gemeinwesen und den Erhalt von sozialem Kapital. Zusammen mit Kolleg:innen am Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) haben wir daher im SolZiv-Projekt auch zivilgesellschaftliche Akteure in Deutschland befragt – vom Fußballverein bis „Omas gegen rechts“. Etwa 25 Prozent der befragten Organisationen haben finanzielle und materielle Unterstützung für Betroffene geleistet; weitere knapp 14 Prozent haben konkrete pandemiebedingte Nachbarschaftshilfe organisiert. Diese positiven Befunde sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Corona-Krise die organisierte Zivilgesellschaft mit voller Wucht getroffen hat und zu einer starken Deaktivierung führte: Fast Dreiviertel der von uns befragten Organisationen geben an, dass die Krise negative bzw. sehr negative Auswirkungen auf ihre Arbeit habe. Ein wichtiger Teil von Solidarität und Hilfsbereitschaft fand daher wie gezeigt im informellen Bereich statt.

Diese verstärkte Informalisierung bürgerschaftlichen Engagements in der Corona-Krise sehen wir auch beim Protestgeschehen. Auf den ersten Blick erscheinen gerade die Corona-Proteste der sogenannten Querdenker-Bewegung als Gegenpol zur solidarischen Unterstützung. Auch hier zeigt sich eine lose und informelle Organisation, die mit der Mobilisierung entstand und dieser nicht vorausging. Wie Edgar Grande und Kolleg:innen zeigen, bekundeten von Juni bis November 2020 konstant rund 20 Prozent der Befragten in Deutschland viel bis sehr viel Verständnis für die Proteste, während rund jede:r Zehnte selbst daran teilnehmen würde. Analog zur Radikalisierung der Bewegung ist jedoch auch der Teil der Bevölkerung gewachsen, der sich explizit gegen die Proteste ausspricht und sich von ihnen distanziert. Die Proteste haben die Öffentlichkeit daher auch mobilisiert

Was bedeuten diese Indizien für den gesellschaftlichen Zusammenhalt während und nach der Corona-Krise?

Der Diskurs über Spaltung und Zusammenhalt beruht meist auf der Annahme, mehr Polarisierung bedeute gleichzeitig weniger Zusammenhalt. Tatsächlich jedoch beobachten wir in der gegenwärtigen Krise zeitgleich stark ambivalente Entwicklungen: Zunächst lässt sich eine prosoziale Aktivierung feststellen, die den Eindruck von gestärktem Zusammenhalt weckt und ein großes Maß an Hilfsbereitschaft zum Ausdruck bringt. Die gute Nachricht ist, dass Engagement nicht zum Erliegen gekommen ist. Gleichzeitig wurde die organisierte Zivilgesellschaft stark getroffen und besonders Personen ohne dichtes soziales Netz erhielten tendenziell zu wenig Unterstützung. Darüber hinaus hat die Pandemie antisoziale Tendenzen zutage gefördert und verstärkt bestehende oder schafft neue Ungleichheiten, die eine zusätzliche Grundlage für weitere Polarisierung bilden können.

Diese Gleichzeitigkeit von Polarisierung und Zusammenhalt schafft jedoch auch Anstöße für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse: sei es über die wissenschaftsfeindlichen und postfaktischen Aussagen der Querdenker oder die gesellschaftlichen Missstände beispielsweise im Pflegesektor. In welche Richtung sich diese Aushandlungen im Rahmen der Corona-Krise wenden, hängt unseres Erachtens stark davon ab, als wie nachhaltig und belastbar sich informelle Zusammenschlüsse in der Zivilgesellschaft erweisen.

Der Beitrag erschien zuvor in längerer Fassung in den WZB Mitteilungen.


 

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