• Wissenschaft in der Shopping Mall

„Mall Anders“ heißt ein offenes Lernlabor, das FU Berlin, HU Berlin, TU Berlin und Charité – Universitätsmedizin gemeinsam in einer Shopping Mall eröffnet haben. Mitten im Konsum-Umfeld treten hier Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unkompliziert in den Dialog mit der Stadtgesellschaft. Eine neue Form der Wissenskommunikation. Mit seinem offenen Ansatz steht das Projekt zugleich für die Unkonventionalität der Brain City Berlin. Im März geht das „temporäre Testfeld“ in die zweite Runde.

 

In die „Wilma-Shoppen“-Mall kommen die Anwohnerinnen und Anwohner des Charlottenburger Kiezes meist, um schnell mal in den Supermarkt zu springen oder ein wenig zu flanieren. Wie in sämtlichen Shopping-Centern geht es hier primär um Konsum. Doch halt! Inmitten des Erdgeschosses, zwischen Bekleidungsgeschäften, Fastfoodketten und Parfümerien klebt plötzlich ein Anti-Konsum-Versprechen an der gläsernen Ladenfront: „Alles umsonst!“ steht dort in Großbuchstaben. Und über dem Eingang leuchten die Worte „Mall Anders“.

Im Dezember vergangenen Jahres eröffnete das „offene Lernlabor für Wissenschaft & Gesellschaft“ seine Türen für alle, die vorbeischauen und reinkommen möchten. Denn die „Mall Anders versteht sich als temporäres Testfeld zum Lernen, Diskutieren, Experimentieren und Erforschen und ist eine Initiative der vier in der Berlin University Alliance (BUA) vertretenen Akteure Technische Universität Berlin, Freie Universität Berlin und Humboldt-Universität zu Berlin – einschließlich der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

„Ausgangspunkt für das Projekt war die Überlegung, Wissenschaftskommunikation einmal neu zu denken und in direkten Dialog mit der Stadtgesellschaft zu treten“, erläutert Dr. Thorsten Philipp, Referent für Transdisziplinäre Lehre im Präsidium der TU Berlin und zugleich einer der Initiatoren und Koordinatoren des temporären Experimentierraums in der Shopping-Mall. „Universitäten sind meist so konzipiert, dass Menschen, die dort nicht arbeiten oder studieren, sich nicht ohne Weiteres eingeladen fühlen. Wir stellten uns die Frage: Was passiert, wenn wir Universitäten mal nicht als einen weitgehend abgeschotteten Ort definieren, sondern als einen für alle offenen Raum, der sich überall realisieren lässt? Und das in einer etwas irritierenden, aber lockeren Art und Weise.“

Trash ist Teil des Konzepts

Eine Idee war geboren: Über eine hochschulinterne Verbindung entstand der Kontakt zu „Wilma-Shopping“. Das Center-Management der Mall zeigte sich gleich begeistert und stellte dem Projekt eine rund 380 Quadratmeter große, leerstehende Fläche zur freien Verfügung. Wirklich „leer“ war diese Fläche allerdings zunächst nicht, denn der Vormieter – ein in die Insolvenz gegangenes japanisches Einzelhandelsunternehmen – hatte die gesamte Laden-Ausstattung samt der Ware zurückgelassen. Aus Konsumgütern war so quasi über Nacht Müll geworden. Studierende des „Natural Building Lab“ der Fakultät für Architektur der TU Berlin machten sich dies zunutze, indem sie die Abfallmaterialien im Sinne der Kreislaufwirtschaft in die Raumgestaltung einbezogen. „Alles hier ist im Grunde Trash“, erläutert Thorsten Philipp: „Regale wurden auseinandergenommen und in einer anderen Weise wieder zusammengesetzt. Papp-Kisten wurden übersprüht, Regalböden ineinander gesteckt und verdübelt; es gibt keine Nägel. Sämtliche Materialien könnten sofort wieder in eine herkömmliche Shop-Architektur zurückverwandelt werden.“ Auch die Raumarchitektur selbst ist flexibel. Jede Gruppe, die hier eine Veranstaltung plant, kann sich die Räumlichkeiten mit vorhandenen Elementen neu umgestalten. Ein sehr achtsamer Umgang mit Material. „Dieser Raum hat auch etwas mit Kontrollverlust zu tun. Wir machen keine Vorgaben. Wer sich bei und präsentieren will, sollte aber zunächst einmal überlegen: Was könnte das hier sein? Und wofür wollen wir es nutzen?“   
 
Für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die in der „Mall Anders“ Veranstaltungen durchführen, wird der Raum zur Bühne. Der kommunikative Ansatz für jedes Event wird vorher gemeinsam durchdacht: „Es geht uns darum, Wissenschaft transparent und verständlich zu machen, das Publikum zu erreichen. Uns ist es wichtig, dass Studierende sich immer in einer Verantwortungsposition gegenüber der Gesellschaft sehen  – das ist auch ein wichtiges Anliegen von transdisziplinärer Didaktik.“   

 

Jeder Mensch trägt Wissensressourcen in sich

Thematisch ist die „Mall Anders“ völlig offen. Auf dem aktuellen Programm stehen Ausstellungen und Diskussionsveranstaltungen zu Themen wie Nachhaltigkeit, Städtebau oder Digitalisierung. Auch ein Repair-Café bietet Workshops an. Bewerben können sich grundsätzlich alle, die in dem offenen Lernlabor ein wissenschaftliches Thema präsentieren möchten. „Jeder Mensch trägt Wissen in sich“, begründet Thorsten Philipp diesen breiten Ansatz. „Es gibt Berufswissen, Erfahrungswissen, situiertes Wissen, implizites Wissen und andere Wissensressourcen in unserer Gesellschaft, die wir zur Beantwortung von großen Fragestellungen nutzen können. Das hat etwas mit der Pluralität der Gesellschaft zu tun, aber auch mit der Pluralität der Akteurinnen und Akteuren in der Wissensproduktion. Und das sind nicht immer nur die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst.“

In den ersten drei Monaten seit ihrer Eröffnung lief die „Mall Anders“ bereits gut an. Mal schauen nur Vereinzelte neugierig herein, mal ist der Raum intensiv belebt. Los ist fast immer etwas. „Wir haben eigentlich ausnahmslos Anerkennung für das Konzept bekommen“, freut sich Thorsten Philipp. „Einige der Besucherinnen und Besucher fühlten sich sogar eingeladen, uns ihre Bildungsbiografie zu erzählen. Manche dieser Geschichten waren sehr berührend.“ Nach einer kurzen Verschnaufpause Anfang März soll das mit BUA-Geldern finanzierte Projekt bis Juni 2022 verlängert werden. Event-Ideen sind willkommen: „Wir freuen uns über Anregungen “, ergänzt Thorsten Philipp. „Man kann uns unter hallo@mall-anders.berlin Vorschläge schicken. Dann kommen wir in der Regel sehr unkompliziert miteinander ins Gespräch.“

Wer einfach mal so in dem wissenschaftlichen Lernlabor vorbeischauen möchte, kann dieses ebenfalls jederzeit tun. Und sei es nur, um es sich in einem der Liegestühle gemütlich zu machen,  über die Bedeutung von Wissenschaft in der Gesellschaft zu diskutieren – oder über die Konsum-Kultur vor der gläsernen Ladenfront nachzudenken. „Alles umsonst“: Vielleicht gilt das im Nachhinein auch für dieses Hochschul-Projekt in der Einkaufswelt. Die Doppeldeutigkeit ist ebenfalls bewusster Teil des Konzepts. Wissenschaft – „Mall Anders“. (vdo)

Mall Anders

EG. Wilma Shoppen
Wilmersdorfer Str. 46, 10627 Berlin
Mo–Fr 10:00 bis 20:00 Uhr, samstags nach Ankündigung

mall-anders.berlin

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