• Phagenhülle dockt an das Influenza-Virus an.

    Berliner Forscher*innen-Allianz entwickelt Influenza-Hemmstoff

Mit Viren gegen Influenza, Vogelgrippe – und bald vielleicht auch gegen Corona? Eine Allianz von Wissenschaftler*innen des Leibniz Forschungsinstituts für Molekulare Pharmakologie (FMP), der Freien Universität Berlin (FU), der Technischen Universität Berlin (TU), der Humboldt Universität (HU), des Robert Koch-Instituts (RKI) und der Charité-Universitätsmedizin Berlin hat in der Brain City Berlin ein sogenanntes Phagen-Kapsid einwickelt, das Grippevieren unschädlich macht, indem es sie einkapselt. Ob diese bahnbrechende Entwicklung auch im Menschen wirksam ist, soll im nächsten Schritt untersucht werden.

Grippeviren sind nicht nur hochgefährlich, sie lassen sich auch nur schwer bekämpfen. Das Problem: Bisher verwendete antivirale Medikamente greifen das Virus erst an, wenn es die Lungenzellen bereits infiziert hat. Das könnte sich bald ändern. Wie das Berliner Leibniz Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP) am Montag bekanntgab, hat eine multidisziplinäre Forschungsallianz aus Wissenschaftler*innen des FMP, der Freien Universität Berlin (FU), der Technischen Universität Berlin (TU), der Humboldt Universität zu Berlin (HU), des Robert Koch-Instituts (RKI) und der Charité –Universitätsmedizin Berlin einen bahnbrechenden Ansatz zur Bekämpfung von saisonaler Influenza und Vogelgrippe entwickelt, der möglicherweise auch gegen das Corinavirus angewendet werden könnte.

Das interdisziplinär angelegt Projekt ist eines der jüngsten Beispiele für die erfolgreiche, institutionsübergreifende Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlichen Institutionen in der Brain City Berlin. Ebenso wie der Wissenschaftsstandort fußt die Berliner Forscher*innen-Allianz auf einer offenen Forschungsatmosphäre und einer großen Bandbreite an Expertenwissen.

Wie ein Klettband – so funktioniert der neue Ansatz

Der von Biologen, Chemikern, Physikern, Virologen, Medizinern und Bildgebungsspezialisten gemeinsam entwickelte Hemmstoff (Inhibitor) nutzt eine Eigenschaft, die sämtliche Influenza-Viren aufweisen: Auf ihren Oberflächen befinden sich drei-bindige (trivalente) Rezeptoren, sogenannte Hämagglutinin-Proteine. Im Falle einer Ansteckung haken sich die Viren – ähnlich wie bei einem Klettverschluss – in die Lungenzellen ein. Das Prinzip des neuen Hemmstoffs: Er „täuscht“ die Grippeviren, indem er die Oberfläche der Lungengewebszellen imitiert. 

Basis des Wirkstoffs ist ein harmloser Darmbewohner: ein sogenannter „Q-beta-Phage“. Phagen sind Viren, die Bakterien oder andere Viren als Wirte nutzen und sie damit unschädlich machen. Auf Grundlage einer leeren und damit nicht infektiösen Hülle eines solchen Phagen entwickelten die Berliner Forscher*innen ein chemisch modifiziertes „Phagen-Kapzid“. Diese leere Phagenhülle umhüllt die Influenzaviren passgenau und nimmt ihnen damit sprichwörtlich die Luft zum Atmen. Um das Virus zu „ködern“, werden die Phagen mit Zuckermolekülen bestückt.  

Der Ansatz der Berliner Forscher*innen-Allianz bietet völlig neue Perspektiven für die Entwicklung antiviraler Medikamente. „Nach bisherigen präklinischen Tests können wir sowohl saisonale Influenzaviren als auch Vogelgrippeviren mit unserer chemisch modifizierten Phagenhülle unschädlich machen“, erläutert Prof. Dr. Christian Hackenberger, Leiter der Abteilung Chemische Biologie am FMP und Leibniz-Humboldt Professor für Chemische Biologie an der HU Berlin. „Unser rational entwickelter, dreidimensionaler, multivalenter Inhibitor weist in eine neue Richtung hin zur Entwicklung strukturell anpassbarer Influenzavirusbinder. Das wurde so noch nie in der Multivalenzforschung erreicht.“

Präklinische Untersuchungen sollen Wirksamkeit im Menschen testen

Ob der neue Hemmstoff auch bei Menschen wirkt, wollen die Berliner Forscher*innen nun in weiteren präklinischen Untersuchungen testen. Die Berliner Forscher*innen bescheinigen dem neuen Ansatz großes Potenzial. Der Hemmstoff ist biologisch abbaubar und nicht toxisch. Außerdem erwies er sich in Untersuchungen am Tiermodell und in Zellkulturen als nicht immunogen; er rief keine Reaktion des Immunsystems hervor.

Mit Unterstützung des Robert Koch-Instituts konnten die Berliner Forscher*innen auch das Potenzial der Phagen-Kapside gegen viele aktuelle Influenza-Virenstämme und Vogelgrippe-Viren untersuchen. Und an der Medizinischen Klinik für Infektiologie und Pneumologie der Charité konnte an menschlichem Lungengewebe ein therapeutisches Potenzial des Hemmstoffs bewiesen werden: Wurde das Gewebe mit Grippeviren infiziert und mit dem Phagen-Kapsid behandelt, waren die Influenzaviren praktisch nicht in der Lage, sich zu vermehren. 

Prinzipiell lasse sich der Wirkstoff auch auf andere Bakterien und Viren anwenden, so Christian Hackenberger. Die Bekämpfung von Corona stellt eine neue Herausforderung für die Berliner Forscher*innen dar. Aktuell verfolgen sie die Idee, über den Phagen-Ansatz einen Wirkstoff zu entwickeln, der die Bindung der Viren an die Wirtszellen im Rachenraum und den nachfolgenden Atemwegen verhindert – und damit eine Infektion des Menschen. (vdo)

Ein derart aufwendiges Projekt war meiner Ansicht nach nur in Berlin möglich, wo es wirklich zu jeder Fragestellung den passenden Experten gibt.
                                   (Prof. Dr. Andreas Herrmann, Leiter Molekulare Biophysik an der Humboldt-Universität zu Berlin) 

 

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