„Berlin ist ein perfekter Standort. Vor allem, wenn man wissenschaftlich nicht eingleisig fahren möchte“

12.08.2019 | Die Literaturwissenschaftlerin Dr. Betiel Wasihun war wissenschaftlich international unterwegs. Nach Stationen in Heidelberg, Yale und Oxford zog es sie vor 2 Jahren nach Deutschland zurück. Seitdem ist sie IPODI Marie Curie Fellow an der Technischen Universität Berlin. Das Programm fördert herausragende junge Wissenschaftlerinnen verschiedener Disziplinen. Wir sprachen mit der Brain City Berlin-Botschafterin über ihr Leben in Berlin – und ihr spannendes Forschungsthema: Überwachung.

Frau Dr. Wasihun, momentan sind Semesterferien. Beschäftigen Sie sich als IPODI-Stipendiatin da in aller Ruhe mit Ihrem Projekt?
Momentan unterrichte ich an der Summer University der TU Berlin. Das hält mich ziemlich auf Trab. Aber da ich einen Kurs im Bereich meines aktuellen Forschungsbereichs anbiete, hält mich der Unterricht nicht von meiner eigentlichen Forschungsarbeit ab. Ganz im Gegenteil: Er eröffnet mir neue Perspektiven auf das weitreichende Feld der „Surveillance Studies“, denn der Kurs, den ich anbiete, heißt: „Surveillance Technologies and Cultural Transformation since 9/11“. Er richtet sich – wie das gesamte Programm – an Studierende aus der ganzen Welt.

Was genau beinhaltet der Kurs?
In der ersten Woche haben wir uns mit der „History of Surveillance“ beschäftigt. Dafür ist Berlin ein idealer Ort. Wir waren im Stasimuseum, im DDR Museum, im Deutschen Spionagemuseum und sogar im Stasi-Unterlagen-Archiv Berlin. In einem Raum gibt es dort eine überdimensionierte Akte, die man begehen kann. Das hat die Studierenden besonders beeindruckt. In der zweiten Woche habe ich mit ihnen theoretische Konzepte durchgesprochen. Letzte Woche waren wir in einer multimedialen Ausstellung „Überwachung und Repression in Ost und West“ im ehemaligen Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Auf einem begehbaren Luftbild konnten die Studenten einen Eindruck vom Ausmaß der Stasi-Überwachung erhalten. Der Kurs wird zudem von einer Reihe von Gastdozent*innen bereichert, die über Themen wie Drohnen, Algorithmen und die Repräsentation von Überwachung im Film und den Bildenden Künsten referieren.
 
Besuchen ausschließlich Literaturwissenschaftler*innen Ihrem Kurs?
Nein, die Studierenden kommen aus allen Fachrichtungen. Ein Teilnehmer ist Sozialwissenschaftler, aber viele haben einen naturwissenschaftlichen Hintergrund und sind vor allem an technologischen Themen interessiert. Die TU ist eine technische Hochschule, die aber Wert darauf legt, zwischen den Technik- und Naturwissenschaften einerseits und den Geisteswissenschaften andererseits Brücken zu schlagen. Auf den ersten Blick scheint Überwachung ein rein technologisches Thema zu sein. Aber wer sich intensiver mit dem Thema auseinandersetzt, merkt sehr schnell, wie die Popkultur, die Literatur und die Künste überhaupt unser Verständnis von Überwachung maßgeblich bestimmt haben und weiterhin prägen werden.

Wie kamen Sie eigentlich auf das Thema Überwachung?
Das hat sich quasi von selbst entwickelt. Seit meiner Dissertation beschäftige ich mit Franz Kafka. Außerdem interessiere ich mich für große Phänomene des menschlichen Seins wie Scham und Verrat. Sie können sich denken, dass man vom Verrat schnell zum Thema Überwachung kommt. In Kafkas Roman „Der Prozess“ wird der Protagonist Josef K. im intimsten aller Räume, dem Schlafzimmer, verhaftet. Und seine Nachbarin beobachtet das Geschehen. Kurzum: Das Setting von „Der Prozess“ ist ein Überwachungs-Setting. So kam ich zu dem Thema. Und weil wir uns – wie es der Soziologe David Lyon treffend formuliert hat – heute auch in einer „Überwachungsgesellschaft“ befinden.

Inwiefern greift die aktuelle Literatur das Thema auf?
9/11 wird – auch literatur- und kulturwissenschaftlich – gemeinhin als Zäsur verstanden. Das Attentat und die daraus folgenden Terror-Ereignisse haben weltweit zur Legitimierung der staatlichen Überwachung geführt. Die wichtige Frage in diesem Zusammenhang lautet: „Wie viel Überwachung ist nötig – und was ist zu viel?“ Wir sollten uns angesichts des allgemein freizügigen Umgangs mit den Sozialen Medien auch selbst hinterfragen. Wenn die Menschen im Netz zu viel von sich preisgeben, wo bleibt dann noch das, was Innerlichkeit genannt wird. Die Substanz, das Individuum?

Gibt es deutsche Autor*innen, die das Thema Überwachung gegenwärtig aufgegriffen haben?
Eine ganze Reihe von Autor*innen: Etwa Juli Zeh in „Corpus Delicti“, Ulrich Peltzer in „Teil der Lösung“, Katharina Hacker in „Die Habenichtse“, Marc-Uwe Kling in „Qualityland“ und Sibylle Berg in ihrem erst kürzlich erschienenen Buch „GRM – Brainfuck“.

 

Dr. Betiel Wasihun, IPODI Marie Curie Fellow, TU Berlin

Als Deutsch-Eritreerin schätze ich besonders die Weltoffenheit, die mit der Internationalisierung einhergeht. In dieser Hinsicht ist Berlin einzigartig innerhalb Deutschlands.

Und wie schaut es in der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur aus?
Auch hier gibt es einige interessante Romane, wie beispielsweise Thomas Pynchons „Bleeding Edge", Jonathan Franzens „Purity” oder Gary Shteyngarts „Super Sad True Love Story”. Ein besonders viel diskutierter amerikanischer „Überwachungsroman“ der Gegenwart ist allerdings Dave Eggers’ „The Circle“. Das Buch lehnt sich an George Orwells „1984“ an. Es geht um eine Firma, die Google ähnelt, und quasi alles auffrisst. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die zum Aushängeschild dieser Firma wird. Letztendlich lässt sie es zu, dass sie 24 Stunden am Tag von Kameras überwacht wird. Sie hat auch das entsprechende Publikum dafür. Transparenz ist das höchste Ziel in dem Roman; Privatsphäre und jegliches Gefühl der Scham sollen abgeschafft werden. Es gibt keinerlei Substanz mehr. Die Menschen werden immer flacher. Über die literarische Qualität von Eggers‘ dystopischem Roman, der übrigens auch mit Emma Watson und Tom Hanks verfilmt wurde, lässt sich streiten, aber er kann sehr wohl als Thesenroman gelesen werden kann– in Bezug auf das, was die heutige Gesellschaft bewegt.

Gehen deutsche und amerikanische Autor*innen unterschiedlich an das Thema Überwachung heran?
Ich habe tatsächlich einen Unterschied feststellen können: In deutschen Romanen wie Katharina Hackers „Die Habenichtse“ oder Ulrich Peltzers „Teil der Lösung“ wird aus verschiedenen Perspektiven her erzählt. Man hat daher unterschiedliche Sichtweisen auf das Geschehen. Diese mehrsträngigen Erzählweisen deuten auf eine Abwendung vom zentralisierten Erzählen hin - was als Kritik an zentralisierter Überwachung verstanden werden kann. In der gegenwärtigen US-amerikanischen Literatur ist eher eine Rückkehr zum auktorialen, allwissenden Erzähler zu beobachten, der eine zentrale Perspektive einnimmt. Vielleicht aber gerade, um über die erzählerische Ebene zu betonen: Es wird alles überwacht. Hier wird Überwachung mit den eigenen Mitteln kritisiert.

Kommen wir zu Ihnen: Was hat Sie nach Berlin gebracht?
Ich habe nach meinem Studium und meiner Promotionszeit in Heidelberg und Yale in Oxford geforscht und unterrichtet. Nach mehr als sieben Jahren zog es mich allerdings zurück nach Deutschland. Ich habe mich dann auf die IPODI Marie Curie Fellowship der TU Berlin beworben. Das war für mich eine Chance hierherzukommen. Ich fand die Stadt bereits seit langem sehr attraktiv, weil sie sehr international geworden ist. Außerdem gibt es hier im kulturwissenschaftlichen Bereich eine große Anzahl an Institutionen und der Kulturbetrieb ist stark ausgeprägt. Berlin konkurriert in Bezug auf sein Angebot inzwischen mit den großen Metropolen der Welt.

Haben Sie bereits Kontakte in Berlin knüpfen können?
So langsam baue ich mir hier ein gutes Netzwerk auf. Am vergangenen Wochenende wurde ich beispielsweise auf ein interdisziplinäres Symposium über Medien, Technologie und Subjektivität im Kreuzberger Aquarium eingeladen, um einen Vortrag zum Thema „Scham im Zeitalter der digitalen Überwachung“ zu halten. Und Anfang des Jahres habe ich am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung einen Workshop zum Thema „Überwachung. Fiktionen und Emotionen“ mitorganisiert. Außerdem bin ich ProFil-Stipendiatin und komme über dieses Programm mit Wissenschaftler*innen aus diversen Bereichen in Kontakt.  Und ich kenne inzwischen auch ein paar Autor*innen und Künstler in der Stadt, mit denen ich Projekte anschieben möchte. Berlin ist ein perfekter Standort. Vor allem, wenn man wissenschaftlich nicht eingleisig fahren möchte, sondern sich für verschiedene Dinge interessiert.    

 

Was schätzen Sie privat an Berlin?

Berlin hat nach wie vor eine hohe Lebensqualität. Auch wenn die Mieten in letzter Zeit gestiegen sind, haben sie noch nicht die Londoner Mietpreise erreicht. Berlin ist seit dem Mauerfall sehr international geworden. Als Deutsch-Eritreerin schätze ich besonders die Weltoffenheit, die mit dieser Internationalisierung einhergeht. In dieser Hinsicht ist Berlin einzigartig innerhalb Deutschlands. Auch wenn sich das politische Klima in Deutschland gegenüber Einwander*innen und Geflüchteten in den letzten Jahren sehr verändert hat, ist in den meisten Berliner Vierteln die Weltoffenheit der Stadt deutlich spürbar. Auch mit Kindern kann man hier immer etwas Aufregendes machen. Das Angebot ist groß.

Haben Sie Tipps für Studierende, die aus dem Ausland nach Berlin kommen?
Anfangs wird man natürlich ins kalte Wasser geworfen. Aber die International Offices der Universitäten sind gute Anlaufstellen. Darüber hinaus kann man in Berlin sehr leicht Kontakte zu Mitstudierenden knüpfen. Mein spezieller Tipp ist die Plattform Culture Trip. Ich arbeite sehr gern in Cafés. Über diese Plattform habe ich schnell passende Adressen gefunden. Eines dieser Cafés liegt in der Nähe der Friedrichstraße. Fast alle sprechen dort Englisch, sogar das Personal. Auch das ist inzwischen Berlin.

Welches ist Ihr Berliner Lieblingsort?
Sehr gern mag ich zum Beispiel das Literaturhaus Berlin in der City West. Vor allem unter der Woche vormittags kann man dort im Garten entspannt einen Kaffee trinken und in Ruhe arbeiten. In der Nähe des Brunnens ist das richtig lauschig. (vdo)