„Wir müssen Pflege völlig neu denken!“

27.09.2019 | Zum Wintersemester 2020/21 führt die Alice Salomon Hochschule (ASH) Berlin den ersten primärqualifizierenden Bachelorstudiengang Pflege in der Brain City Berlin ein. Das übergeordnete Ziel: die Qualität in der Pflege durch Akademisierung zu sichern. Außerdem soll über das Studium das Berufsfeld aus wissenschaftlicher Perspektive weiterentwickelt werden. Mehr zu dem neuen Studiengang und zu Problemen und Perspektiven der Pflege in Deutschland aus Sicht der Wissenschaft erzählt Dr. Gudrun Piechotta-Henze, Professorin für Pflegewissenschaft an der ASH Berlin.

Frau Dr. Piechotta-Henze, die ASH Berlin führt als erste Berliner Hochschule den  primärqualifizierenden Bachelor-Studiengang „Pflege“ ein. Was steht dahinter?
2016 trat die Politik mit der Anfrage an uns heran, ob wir nicht unsere bisherige Aufnahme an Studierenden erweitern könnten. Es ging dabei insbesondere um die Kapazitäten in unseren bestehenden Bachelor-Studiengängen „Soziale Arbeit“ sowie „Erziehung und Bildung in der Kindheit.“ Außerdem sollte ein neuer, primärqualifizierender Studiengang „Pflege“ eingerichtet werden. Die ASH hat diese Herausforderung angenommen. In Berlin wird es ab 2020 insgesamt drei Standorte geben, die primärqualifizierende Pflegestudiengänge anbieten: Die Evangelische Hochschule Berlin (EHB), die bereits seit mehreren Jahren einen dualen Bachelor-Studiengang im Programm hat, wird diesen im kommenden Jahr auf ein primärqualifizierendes Angebot umstellen. Auch die Charité - Universitätsmedizin Berlin wird mit an Bord sein.

Was ist das Besondere an dem neuen ASH-Studiengang?
Die Studierenden erhalten nach dem siebensemestrigen Studium sowohl einen akademischen Abschluss, „Bachelor of Science“, als auch die Erlaubnis die Berufsbezeichnung „Pflegefachfrau/Pflegefachmann“ zu führen. Sie können danach also sowohl den akademischem Pfad einschlagen, einen Master-Abschluss und eine Promotion anstreben oder direkt in die Praxis gehen. Es stehen ihnen viele, interessante Berufs- und Karrierewege offen.

Bedeutet eine Akademisierung der Pflege nicht, dass der Bezug zur Praxis verloren geht?    
Nein, das höre ich oft. Aber es stimmt definitiv nicht. Wer Pflege studiert, will später meist auch nah am Menschen arbeiten. Konkret kann das beispielsweise so aussehen, dass unsere Absolvent*innen später in einem Aufgaben-Mix einen halben Tag in der Fortbildung arbeiten und einen halben Tag in der Pflege. Sie gehen mit hohen Kompetenzen auf den Arbeitsmarkt. Internationale Studien belegen beispielsweise, dass Pflegekräfte mit akademischem Hintergrund in Notfällen oder bei Komplikationen eher dazu in der Lage sind, die Situation zu erfassen und umfassend darauf zu reagieren.

Wo und wie könnten Absolvent*innen des Pflegestudiengangs eingesetzt werden?
Kliniken und Pflegeeinrichtungen beschäftigen sich bereits intensiv mit dem Thema. Pflegekräfte mit Hochschulausbildung können sehr selbständig arbeiten und zum Beispiel auch Beratungsleistungen übernehmen. Es wird vermutlich zu einer Aufgabenneu- und -umverteilung kommen. Wir müssen Pflege völlig neu denken!

Inwiefern kann eine stärkere Akademisierung der Pflege dem heutigen Fachkräftemangel entgegenwirken?
An der ASH Berlin können wir natürlich keine Wunder vollbringen. Aber wir sind zuversichtlich, dass ein Pflegestudiengang wie der unsrige zu einer höheren Qualität im  Pflegebereich beitragen kann. Das setzt allerdings voraus, dass sich die Rahmenbedingungen ändern. Grundsätzlich krankt der Bereich an familienunfreundlichen Arbeitszeiten, einer hohen Arbeitsbelastung und geringem sozialen Status. Damit der Bereich für Pflegepersonal attraktiver wird, muss dieses auf Augenhöhe mit der Ärzt*innenschaft und der Verwaltung kommunizieren können. Auch die Bezahlung muss besser werden. Das geht nicht ohne eine Akademisierung der Pflege. Wir appellieren daher eindringlich an die politische Seite, das Pflegestudium mehr in den Blick zu nehmen und es auch auf ökonomischer Basis attraktiver zu machen.

Prof. Dr. Gudrun Piechotta-Henze, Professorin für Pflegewissenschaft, ASH Berlin

Wer Pflege studiert, will später meist auch nah am Menschen arbeiten.

Wie bereits erwähnt, ist der Praxisbezug in der Pflege-Ausbildung essenziell. Wie integrieren Sie die Praxis  in den neuen Studiengang?
Grundsätzlich werden wir die Studierenden graduell und gründlich auf den Einsatz in der Praxis vorbereiten. Im ersten Semester bilden wir ausschließlich im Seminarraum und im Lernlabor aus. Zunächst wird den Studierenden theoretisches Wissen vermittelt. Sie lernen beispielsweise, wie man den Blutdruck misst – mit allem, was dazu gehört. Im zweiten Schritt werden die theoretischen Kenntnisse dann im „Skills-Lab“ erweitert. Hier üben die Studierenden an Puppen oder mit Patientenschauspieler*innen. Ab dem zweiten Semester geht es dann raus in die Praxis. Die Einsätze bei unseren Kooperationspartnern werden jeweils vier bis zehn Wochen dauern. Gelernt wird dort unter Praxisanleitung und mit supervisorischer Begleitung. Wichtig ist: Unsere Studierenden werden nicht ins kalte Wasser geworfen, sondern sie gehen gut vorbereitet in die Praxis – und sie reflektieren kontinuierlich ihr Tun und ihr Wissen.

Mit welchen Berliner Kooperationspartnern wird die ASH zusammenarbeiten?
Wir bleiben sozusagen in unserem Kiez – in Marzahn-Hellersdorf und auch in Brandenburg, einige Ausnahmen wird es aber geben. Verschiedene potenzielle Kooperationspartner sind erfreulicherweise rasch auf uns zugekommen und sind sehr engagiert in die Vorbereitungen eingebunden.
 
Die ASH Berlin ist Mitglied des frisch gegründeten Hochschulverbunds für Soziale Arbeit, Gesundheit, Erziehung und Bildung (SAGE). Die beteiligten Hochschulen verpflichten sich u.a. zu einem engen Wissens- und Erfahrungsaustausch untereinander und mit der Praxis. Inwiefern spiegelt das Konzept des neuen ASH-Studiengangs dies wider?  

Vor allem in der Sozialraumorientierung. Pflege wird meist noch ausschließlich in Richtung Klinik gedacht. Das stimmt aber schon lange nicht mehr. Wir müssen den demografischen Wandel und veränderte Lebenssituationen und -stile aufgreifen und zum Beispiel schauen, wie Menschen in ihrem gewohnten Umfeld auch im Alter gut versorgt werden können. Im Rahmen des SAGE-Konzepts werden beispielsweise Studierende der ASH-Studiengänge „Soziale Arbeit“, „Erziehung und Bildung in der Kindheit“ und „Physio- und  Ergotherapie“ in bestimmten Modulen interdisziplinär mit Pflege-Student*innen zusammenarbeiten. Gemeinsam werden sie so lernen, neue Wege zu gehen.

Was kennzeichnet für Sie den Wissenschafts- und Forschungsstandort Berlin?
Vor allem die Vielfalt und das große Angebot an Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen. Berlin ist eine große Stadt mit vielen Universitäten, Hochschulen sowie Forschungs- und Fortbildungsinstituten. Man kann sich hier sehr gut interdisziplinär vernetzen. Wir planen zum Beispiel ein Forschungsprojekt mit Professorinnen aus dem Studiengang Industrial Design, Public Health und Pflegewissenschaft. Solche, relativ unkomplizierten interdisziplinären Möglichkeiten von Ideenentwicklungen, Visionen und Zusammenarbeit sind für mich typisch Berlin!“ (vdo)