• Brain City Berlin, Prof. Dr. Kai Reinhardt

    „Die Corona-Krise wirkt als Katalysator der Digitalisierung“

„Wie werden wir die Zukunft der Arbeit in Zukunft gestalten?“ Beim 2. SpreeTalk der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW Berlin) geht es um das Thema Neues Arbeiten. Brain City-Botschafter Prof. Dr. Kai Reinhardt ist einer der Gäste, die am 29. Oktober 2020 auf der virtuellen Veranstaltung vortragen und diskutieren werden. Brain City Berlin sprach mit ihm über aktuelle Ängste von Arbeitnehmer*innen, Herausforderungen für Unternehmen im Zuge der Digitalisierung  – und die Corona-Krise als Bedrohung und Chance.  

 

Herr Dr. Reinhardt, wie hat sich das Arbeitsleben generell durch Corona verändert? 

Eine Kernfrage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist: Wie verändert Corona dauerhaft das Arbeitsumfeld, in dem wir jeden Tag kompetent handeln müssen? Seit Jahren kennen wir schon die neuen Auflösungserscheinungen in der Arbeitswelt – die Effekte aus Digitalisierung, Virtualisierung, Internet der Dinge oder künstlicher Intelligenz. All das sind kleine, aber massive Krisen für jedes Unternehmen. An sich ist das nichts Neues: Die Folge ist aber stets eine organisatorische Anpassung. Seit ungefähr zehn Jahren beobachten wir, dass Geschwindigkeit und Stärke der Krisen zunehmen.

Können Sie das konkretisieren?

Viele Mikrotransformationen laufen auf unterschiedlichen Ebenen ab. Das macht es schwierig, die Krisen als solche zu erkennen. Nehmen wir das Beispiel der Transformation zur sogenannten Gig-Economy. Es beschreibt die massiven Verschiebungen von Arbeit in die freien Berufe. Diese Entwicklung hat zur Zunahme projektbezogener Arbeit geführt – was den Aufbau völlig neuer Kompetenzstrukturen sowohl auf Seiten der freien Mitarbeitenden als auch der Unternehmen nötig machte. Corona wirkt ähnlich, nur eben viel plötzlicher und invasiver. Der Schlüssel ist der Aufbau neuer Kompetenzen – für Arbeitnehmer*innen und Führungskräfte zugleich. Die COVID-19-Krise legt nun auf brutale Art und Weise offen, welche Unternehmen es bisher versäumt haben, sich aus der Komfortzone herauszubewegen. 

Wo Sie gerade Komfortzonen ansprechen: Für die meisten Menschen ist das Arbeiten während der Pandemie auch mit Angst verbunden. Bereits seit einem halben Jahr überschreiten viele von uns ihre Wohlfühl-Grenzen.  

Das stimmt. Die Zunahme der Unsicherheit ist Teil dieser Entwicklung. Unsicherheit führt zu Ängsten – das können wir bei Mitarbeiter*innen, aber auch Unternehmen sehen. Eine aktuelle US-Studie belegt beispielsweise, dass rund drei Viertel aller Arbeitnehmer*innen eine Kündigung in Betracht ziehen, wenn sie das Gefühl haben, dass ihr Arbeitgeber das COVID-19-Risiko herunterspielt. Ängste und Befürchtungen gibt es aber auch bei Unternehmen und Führungskräften. Um in dieser Krise kompetent handeln zu können, ist es wichtig, Mitarbeitende und Führungskräfte zu befähigen und Kompetenzstrukturen aufzubauen. In meinem Buch spreche ich auch vom „antifragilen Unternehmen“, das diese Fähigkeiten in seiner DNA verankert hat und gut mit Krisen umgeht.  

Und welches ist der physische Aspekt der Angst am Arbeitsplatz?

Auf individueller Seite ist dies an erster Stelle die Angst der Arbeitnehmer*innen, sich bei erkrankten Kolleg*innen anzustecken. Dies ist gepaart mit Verlustangst – der Sehnsucht nach sozialem Austausch, die bei der Arbeit im Homeoffice aufkommen kann. In der bereits zitierten Studie beklagten rund 90 Prozent der Befragten, dass ihnen der direkte Kontakt zu ihren Kolleg*innen fehlt.

In Ihrem Impulsvortrag auf dem SpreeTalk werden Sie über Einfluss auf COVID-19 auf Organisationen sprechen. Welche sind das im Groben?

Das Vorbild dafür, wie man mit der Situation gut umgehen kann, sind Technologie-Unternehmen. Diese nutzen bestimmte Bewältigungspraktiken schon lange. Remote-Work ist nur eines der Beispiele. Von Unternehmen, die es quasi nur rein als virtuelles Netzwerk gibt, haben wir gelernt, wie man digitale Beziehungen zu Kunden und Lieferanten auch ohne physische Kontakte pflegen kann. Unternehmen mit traditionellen Geschäftsmodellen waren in der Entwicklung noch nicht so weit. Spannend ist es jetzt zu beobachten, wie schnell auch diese Unternehmen neue Kompetenzstrukturen entwickeln und welche neuen geschäftlichen Chancen daraus entstehen werden. Denn nach einer kurzen Phase der Stabilisierung, kommt nun die Chance zum wirtschaftlichen Neustart! 

Mit welchen Herausforderungen sehen sich Unternehmen aktuell konfrontiert?

Unternehmen müssen wendiger und schneller werden. Und sie müssen existierende Strukturen hinterfragen. Nehmen wir das Thema flache Hierarchien: In den meisten Unternehmen enthalten diese immer noch versteckte Hierarchien. Das ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Aktuell gilt es mehr denn je, Entscheidungen zu beschleunigen – insbesondere an den Rändern der Organisationen. Die Corona-Krise wirkt hier als Katalysator der Digitalisierung. Denn die neue Stärke der Zerstörung, die das Virus mit sich bringt, schafft neue Dringlichkeiten. 

Und was bedeutet die Krise für Arbeitnehmer*innen?

Sie werden generell mehr Verantwortung übernehmen müssen. Hybrides Arbeiten bietet große Vorteile. Dazu gehören Selbstorganisation, laufende Weiterbildung und eine neue Qualität der Kommunikation. Das ist für viele toll, liegt aber nicht jedem. Die meisten Mitarbeiter*innen müssen erst lernen, sich in externer Anbindung an das Unternehmen selbst zu organisieren und Eigeninitiative zu entwickeln. Ich spreche hier allerdings von der elitären Ebene der Wissensarbeiter. Gering qualifizierte Werktätige werden mittelfristig mit hoher Wahrscheinlichkeit durch das Raster fallen. Die Geschäftsführung spielt in einem hybriden Unternehmen eine entscheidende Rolle. Führungskräfte müssen lernen, vom überholten Führungsprinzip der Industrie loszulassen

In wenigen Tagen starten die Berliner Hochschulen in die zweite digitale Vorlesungszeit. Was hat sich für Sie persönlich geändert?

Ich habe das Glück, an einer geisteswissenschaftlichen Fakultät zu unterrichten. In vielen naturwissenschaftlichen Fächern arbeiten die Kolleg*innen inzwischen fast wieder im Regelbetrieb. In den Geisteswissenschaften sind wir dagegen zu wahren Streaming-Profis geworden. Wie viele meiner Kolleg*innen habe ich mich im vergangenen Semester auf Neuland bewegt: mich mit Technik, Schnittprogrammen und Beleuchtung beschäftigt. Ich könnte mir vorstellen, dass sich das weiter professionalisiert. In den USA nehmen teilweise 80.000 Studierende an Hochschul-Onlinekursen teil. Persönlich vermisse ich natürlich den direkten Kontakt und Austausch mit den Studierenden. Andererseits habe ich in letzter Zeit an vielen Konferenzen virtuell teilgenommen, die ich aus Zeit- und Kostengründen real nicht hätte besuchen können. Die Welt rückt derzeit ein Stück näher, auch wenn sie sich physisch distanziert. 

Kommen wir zum SpreeTalk, der ja am 29. Oktober bereits zu zweiten Mal an der HTW Berlin stattfindet. Warum wurde die Veranstaltung ins Leben gerufen? 

Die HTW Berlin lädt zu den SpreeTalks ein, weil sie sich als Hochschule im Kiez in der gesellschaftlichen Verantwortung sieht und Berlin-Schöneweide aktiv mitgestalten möchte. Dies passiert bereits jetzt in vielfältiger Form. Die Forschenden, Studierenden und Mitarbeiter*innen sind in zahlreichen Aktivitäten auf bezirklicher Ebene vernetzt. Es gibt studentische Projekte, anwendungsorientiere Forschungskooperationen mit lokal ansässigen Unternehmen und mit Akteur*innen der Zivilgesellschaft. Der SpreeTalk bringt Menschen an einen Tisch zusammen. Oder –  wie jetzt im Oktober – im virtuellen Raum. 

Was können Hochschul-Veranstaltungen wie der SpreeTalk  in der Brain City Berlin bewirken?  

Formate wie der SpreeTalk machen die Brain City Berlin im Kiez erlebbar. Die Gäste merken, dass Wissenschaft nicht im Elfenbeinturm sitzt, sondern dass sich die Wissenschaftler*innen der HTW Berlin mit Fragen beschäftigen, die sie auch selbst stellen, und darauf konkrete Antworten geben. Bei den SpreeTalks kommen die Menschen ins Gespräch und reflektieren Veränderungen, die sie selbst erleben und beobachten. Gemeinsam können sie positive Zukunftsbilder entwickeln. Themen gibt es genug, denn Schöneweide befindet sich für alle deutlich wahrnehmbar im Wandel: Nicht zuletzt, weil es einer der elf Berliner Zukunftsorte ist.

 

SpreeTalk Schöneweide

Donnerstag, 29. Oktober 2020, 18 bis 20 Uhr.

Mehr Informationen und Anmeldung 

Mehr Stories