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© Stefan Schostok
01.02.2023Angehörigen von Strafgefangenen eine wissenschaftliche Stimme verleihen
Ein Gastbeitrag von Brain City-Botschafterin Prof. Dr. Selin Arikoglu, Professorin für Kinder und Jugendhilfe an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB Berlin). In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit den Lebensbiografien von Angehörigen Inhaftierter. Das Ziel dieser Studien und der von ihr an der KHSB Berlin durchgeführten interdisziplinären Lehrveranstaltungen: Aus den gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen Handlungsempfehlungen abzuleiten – für die Soziale Arbeit und die Zusammenarbeit zwischen Justiz und Kinder-Jugendhilfe.
Angehörige straffällig gewordener Menschen sind im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs unterpräsentiert. Im Vergleich zu Inhaftieren wird ihnen in der Forschung wenig Interesse entgegengebracht. Dies mag darin begründet sein, dass sowohl gesellschaftlich, medial als auch wissenschaftlich und politisch das straffällige Verhalten eines Menschen im Vordergrund steht. Aus diesem Grund habe ich biografisch-narrative Interviews mit Angehörigen – Schwestern und Kindern – von Inhaftierten geführt, um ihnen als Betroffene eine „wissenschaftliche Stimme“ zu verleihen. Die Erhebung der Interviews erfolgte angelehnt an G. Rosenthal im Jahr 2022. Die Endergebnisse werden voraussichtlich Ende 2023 veröffentlicht. Dieser Gastbeitrag zeigt einige der daraus gewonnenen Erkenntnisse auf.
Was erleben Angehörige von Straffälligen?
Die Rechtsbestimmung definiert Angehörige von Straffälligen laut § 11 Abs. 1 Strafgesetzbuch wie folgt:
„Verwandte und Verschwägerte gerader Linie, der Ehegatte, der Lebenspartner, der Verlobte, Geschwister, Ehegatten oder Lebenspartner der Geschwister, Geschwister der Ehegatten oder Lebenspartner, und zwar auch dann, wenn die Ehe oder die Lebenspartnerschaft, welche die Beziehung begründet hat, nicht mehr besteht oder wenn die Verwandtschaft oder Schwägerschaft erloschen ist.“
Durch die begangenen Straftaten ihrer Verwandten werden Angehörige häufig medial und gesellschaftlich in einen Kontext zum straffälligen Verhalten gestellt. Außerdem sind sie den entsprechenden gesellschaftlichen und familiären Ansprüchen und Erwartungen – bedingt durch die Inhaftierung – ungewollt ausgesetzt. Lebenspartnerinnen und -partner müssen die neue Lebenssituation als Alleinerziehende eigenständig bewältigen; sie „funktionieren“. Das vorherige Zusammenleben wird durch die Inhaftierung ad-hoc unterbrochen, wodurch gezwungenermaßen ein neuer Sozialraum entsteht. Auch Belastungen müssen nun eigenständig bewältigt werden, denn im Rahmen knapper Besuchszeiten in der Justizvollzugsanstalt können nicht alle Ereignisse und Probleme mit den Lebenspartnerinnen und -partner besprochen werden.
Kinder von Inhaftierten
Die Inhaftierung eines Elternteils belastet Kinder erheblich. Sie brauchen Fürsorge, um eine soziale Bindung zu ihren Eltern entwickeln zu können.
- Kinder werden allerdings ungewollt häufig verschiedenen Personen zur Betreuung überlassen, weil die Besuchszeiten nicht langfristig planbar sind. Sie fragen ständig nach: „Wo ist Mama, Papa, Opa, Oma?“ Um sie emotional nicht zu belasten, wird die Abwesenheit inhaftierter Angehöriger häufig mit „auswärtiger Tätigkeit“ begründet.
- Die Inhaftierung ihrer Angehörigen, insbesondere wenn es sich dabei um Vater oder Mutter handelt, isoliert Kinder sozial. Sie erleben gleichzeitig einen schmerzhaften Verlust, wie die folgende Aussage eines von mir befragten Kindes belegt: „Dadurch, dass mein Vater inhaftiert wurde habe ich meine ganzen Freunde verloren, die haben mich alle gemobbt und gesagt: ‚Dein Vater ist kriminell. Wir dürfen nicht mit dir spielen.' Das haben die immer zu mir gesagt, ich war immer das Mobbingopfer.“
- Frühkindliche-/schulische Entwicklungschancen werden durch das soziale Umfeld und die Abwesenheit des inhaftierten Elternteils ebenfalls beeinträchtigt, wie es das folgende Beispiel andeutet: „Irgendwann fing es dann an, dass Leute vor unserer Tür standen und meine Mutter bedroht haben, mit einer Waffe. Ich war zum Glück im Kindergarten und meine Geschwister in der Schule.“
- Kinder von Inhaftierten leben in der Regel mit einer sorgeberechtigten Person zusammen und wollen diese mit ihren emotionalen Erlebnissen nicht zusätzlich belasten. Stattdessen versuchen sie meist, die Situation selbstständig zu bewältigen, was nicht immer gelingt: „Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass mein Vater zum Beispiel eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen könnte durch seinen Drogen-Verkauf, weil ich das ja nicht wusste als Kind. Ich wollte das einfach gar nicht verstehen“. In dieser Phase hoffen sie, den fehlenden Rückhalt und Aufmerksamkeit aus ihrer Peergroup zu erhalten, was gegebenenfalls in einem abweichenden Verhalten wie etwa dem Konsum von Drogen enden kann: „(…) unglücklich, habe Drogen konsumiert mit anderen Leuten. Wir haben getrunken.“
Welchen Einfluss kann die Kinder-Jugendhilfe nehmen?
Damit sie ihre Erlebnisse präventiv aufarbeiten können, sollten Kinder von Inhaftierten sowie deren Sorgeberechtigte vor, während und nach der Haftzeit pädagogisch begleitet werden. Hierzu sollte die Kinder-Jugendhilfe bedarfsgerechte Angebote unterbreiten.
- Ein Beispiel ist die erste Begegnung mit der inhaftierten Person im Strafvollzug. Die Kinder wissen meist nicht, was auf sie zukommt: Der eingezäunte Eingangsbereich, die Kontrollen vor dem Besuch durch uniformierte JVA-Bedienstete etc. wirkt sich ängstigend/einschüchternd auf die Kinder aus. In den Strafvollzugsanstalten müsste ein kindgerechter Umgang während der Kontrollen (vor einem Besuch) gewährleistet sein. Zusätzlich belastet die Kinder, dass der Besuch mit weiteren Inhaftierten/Angehörigen in einem Raum erfolgt.
- Den Angehörigen von Inhaftierten könnte empathischer begegnet werden, um bevorstehende Ängste dem Strafvollzug gegenüber zu mindern. Hier fehlt es grundsätzlich an Transparenz gegenüber den Angehörigen. Diese sollten außerdem stärker in die Vollzugsplanung, insbesondere in die Entlassungsvorbereitung, einbezogen werden.
- Die Zusammenführung der Betroffenen nach der Freilassung erfolgt plötzlich. Dies kann sich auf alle Beteiligten belastend auswirken, weil in jahrlanger räumlichen Trennung emotionale Distanz erlebt wurde. Niedrigschwellige präventive Angebote wie beispielsweise Angehörigen-Gruppenmaßnahmen können als Einstieg genutzt werden, um die zuvor beschriebenen Erlebnisse professionell aufzufangen, beziehungsweise die erforderliche Unterstützung anzubieten. „Ein ruhiges Leben zu führen ohne Polizei, Gerichtsverhandlungen und den ganzen Stress, das ist mein Ziel“, so die Schwester eines Inhaftierten.
In gemeinnützigen Vereinen wie in dem von mir gegründeten Verein OYA e.V. engagieren sich Ehrenamtliche, die Betroffene – sowohl Straffällige als auch deren Angehörige – begleiten, beraten und unterstützen in der Bewältigung oft traumatisierender Erlebnisse. „Und dann weiß ich noch ganz genau, dass dann irgendwie alle geschrien haben: auf den Boden, auf den Boden! Und uns Waffen ins Gesicht gehalten haben mit Taschenlampen. Ich hab‘ erst dann erst gecheckt, das ist die Polizei“, erinnert sich eine weitere Befragte (Schwester eines Inhaftierten).
Sinnvoll wäre beispielsweise auch die Begleitung bei Behördenangelegenheiten (z. B. Kontaktaufnahme, Terminierung), die Vermittlung in weiterführende Beratungsstellen (z. B. Schuldnerberatung), die Beratung in Bezug auf die alleinerziehende Elternrolle (z. B. „Wie erziehe ich mein Kind?“) oder die Vermittlung von weiteren Hilfsangeboten.
Grundsätzlich verschafft ehrenamtliches Engagement der Thematik Straffälligkeit – und damit auch den Angehörigen Inhaftierter – gesamtgesellschaftlich mehr Aufmerksamkeit. Aus diesen Gründen wird der Verein OYA e.V. künftig auch in Berlin verortet sein.
Was kann die Wissenschaft tun?
Im Rahmen von Präventiv-Maßnahmen könnten weitere wissenschaftliche Studien (Evaluationen) erstellt werden, um präventive Angebote auszuweiten. Lehrveranstaltungen in den Hochschulen sind in diesem Zusammenhang ein weiterer wichtiger Baustein. An der KSHB Berlin habe ich Lehrveranstaltungen initiiert, welche die praxisorientierte Zusammenarbeit zwischen Justiz und Kinder-Jugendhilfe in wissenschaftlicher Begleitung aufzeigen. Studierende erhalten in den Seminaren die Möglichkeit, sich mit den Handlungsfeldern der „Kinder-Jugendhilfe, Straffälligenarbeit“ sowohl theoretisch (rechtliche Grundlage, Aufbau und Struktur des Sozialdienstes) als auch praktisch auseinanderzusetzen. Sie werden zum kritischen Nachdenken angeregt und reflektierten ihre persönliche Einstellung zur Thematik. Methodisch erhalten sie neben der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema auch die Gelegenheit, mit (ehemaligen) Inhaftierten/Straffälligen und deren Angehörigen (Kinder), Careleavern (Anm. d. Red: junge Menschen, die einen Teil ihres Lebens in der stationären Jugendhilfe verbracht haben – zum Beispiel in Wohngruppen oder Pflegefamilien – und die dabei sind, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen) oder Fachkräften aus der Praxis zu sprechen und zu diskutieren. Ein Beispiel ist die Lehrveranstaltung „Erstellung eines Deeskalationstrainings mit Straffälligen und Studierenden“ deren Konzept von Studierenden, ehemalig Straffälligen und Angehörigen gemeinsam erarbeitet wurde. Das Seminar soll über OYA e.V. künftig als Präventionsmaßnahme in unterschiedlichen Institutionen eingesetzt werden.
Fazit
Wissenschaftliche Studien und Lehrveranstaltungen zu den Erfahrungen von Angehörigen Straffälliger sind essenziell, um einerseits Justizvollzugsanstalten im Umgang mit Angehörigen zu professionalisieren und andererseits der Kinder-Jugendhilfe bedarfsgerechte Angebote unterbreiten zu können. Eine Verzahnung zwischen Justiz und Kinder-Jugendhilfe in wissenschaftlicher Begleitung ist aus meiner Sicht zwingend notwendig, um die Situation für alle Beteiligten und damit auch für die Gesellschaft als Ganzes zu verbessern. Um diese Verzahnung herbeizurufen, biete ich für Mitarbeitende von Justizvollzugsanstalten und der Kinder-Jugendhilfe Workshops und Fortbildungen an. Berlin als weltoffene und diverse Stadt kann hier eine Vorreiterrolle einnehmen.