• Prof. Dr. Johannes Graeske

    Mit Akademisierung dem Pflexit begegnen

Im Wintersemester 2021 ging an der Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH Berlin) der primärqualifizierende Bachelor-Studiengang Pflege an den Start. Ebenso wie die gleichzeitig an der Evangelischen Hochschule Berlin (EHB) und der Charité – Universitätsmedizin Berlin ins Leben gerufenen Pflegestudiengänge, geht es auch an der ASH Berlin um eine Qualifizierung der Studierenden für die steigenden Anforderungen in der Pflege – und eine selbstbewusstere Positionierung von Pflegekräften in der Praxis. Mehr darüber erzählt Prof. Dr. Johannes Gräske, Leiter des Studiengangs Pflege an der ASH Berlin, im Interview.

Herr Prof. Gräske, im Februar haben Sie mit Ihrem Team eine Studie veröffentlicht, in der Sie die Situation in Krankenhäusern in Berlin und Brandenburg während der Pandemie aus pflegerischer Sicht heraus analysierten. Mit welchem Ergebnis

Im Rahmen der Studie haben wir Pflegedienstleitungen in der Region dazu befragt, wie sie in der ersten Corona-Welle hinsichtlich der Maßnahmen aufgestellt waren. Damals mangelte es vor allem an Schutzausrüstung, weil der Markt plötzlich leergefegt war.  Für die Pflegedienstleitungen war es daher vor allem ein Problem, ihre Mitarbeiter*innen zu schützen und somit ihrer Fürsorgepflicht nachzukommen.  Außerdem wurden in Deutschland die Intensivkapazitäten massiv ausgebaut: von ursprünglich 27.000 auf 35.000 Intensivbetten. Damit hat sich die bereits vorher existierende Personalknappheit währen der Corona-Pandemie weiter verschärft. Die Lage entspannt sich jetzt ein wenig, da ein Großteil der Pflegenden inzwischen doppelt geimpft ist. 

Wie man liest, erhalten Pflegekräfte seit Anfang des letzten Jahres deutlich mehr Wertschätzung.

Das stimmt. Außerdem haben Pflegende in einigen Bereichen einen Corona-Bonus erhalten. Das Hauptproblem im pflegerischen Bereich ist allerdings die dünne Personaldecke. Seit Einführung, des fallpauschalisierten Abrechnungssystems in der Gesundheitsversorgung wurde vorwiegend bei den Pflegekräften eingespart. Das hat zu einer erhöhten Arbeitslast geführt – mit entsprechenden Folgen. Nach Angaben der Bundespflegekammer haben seit Beginn der Corona-Krise 28 Prozent der Auszubildenden in Pflegeberufen ihre Ausbildung abgebrochen haben. Und die Bundesagentur für Arbeit listet in ihrer Statistik 9.000 Pflegekräfte, die seit Beginn der Pandemie ihren Beruf verlassen haben. Das sind immerhin 0,5 Prozent der bundesweit in der Pflege beschäftigten Menschen.

Welches sind – neben der hohen Arbeitslast – die konkreten Gründe für den Ausstieg aus dem Pflegeberuf?

Faktoren wie starre Arbeitszeiten und wenig Entlastungsangebote, über die Pflegekräfte Erlebtes loswerden können, erhöhen ebenfalls die tägliche Belastung. Hinzu kommt, dass in vielen Bereichen des Berufes, etwa in der ambulanten Versorgung oder in der stationären Langzeitpflege, die Gehälter nach wie vor unterirdisch sind. Kurzum: Es kommt aktuell einfach unheimlich viel on-top. Neben dem psychischen Druck, den die Pandemie mit sich bringt. 

In einer noch laufenden Studie untersuchen Sie die Wahrnehmung von beruflichem Aufwand und Belohnung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, richtig?  

Genau. Aktuell führen meine Kollegin, Prof. Dr. Katja Boguth und ich zusammen mit einem Team an der ASH Berlin eine bundesweite Erhebung durch, in der wir Pflegekräfte zu ihrer Situation befragen.  Anfang der 2000-er-Jahre wurde eine europaweite NEXT-Studie zum Thema „Nurses Early Exit“-durchgeführt. Wir orientieren uns an den damals verwendeten Instrumenten, um während der Pandemie zu untersuchen, ob und inwiefern sich die Ergebnisse unterscheiden. Über die Umfrage wollen wir Aufschluss darüber erhalten, wie viele Personen so mit der Situation hadern, dass sie über einen „Pflexit“ – einen Ausstieg aus der Pflege – nachdenken. Bisher haben wir mehr als 2.000 Rückmeldungen erhalten. Mitte Mai soll die Umfrage abgeschlossen sein.  

Der Studiengang Pflege an der ASH Berlin ist ja relativ neu. Gerade erst startete er in das zweite Semester. Warum ist eine Akademisierung des Berufsfelds so wichtig?

Hier würde ich zunächst gern einen Schritt zurückgehen: Akademisierung ist seit Jahrzehnten im internationalen Kontext Standard.  Es gibt weltweit nur wenige Länder, in denen Pflege nicht als akademischer Beruf ausgebildet wird.  Deutschland gehörte bis vor Kurzem dazu. Insofern stecken wir hierzulande noch in den Kinderschuhen. Das Pflegeberufegesetz, das Pflege als Studium in Deutschland überhaupt ermöglicht hat, trat im Januar 2020 inkraft. Dieser Lückenschluss war sehr wichtig, da EU-Bürger*innen inzwischen europaweit arbeiten dürfen. Und Pflegekräfte aus Deutschland hatten im Ausland Probleme mit der Anerkennung ihrer Ausbildung. Hinzu kommt: Auch in Deutschland wird die Situation im Healthcare-Bereich immer komplexer. Die Bevölkerung überaltert zusehends – und damit einhergehend steigt auch die Zahl der Grunderkrankungen.

Und was bedeutet das für die Pflege?

Grundsätzlich wird die Pflegelandschaft diverser und auch die Berufsbilder differenzieren sich. Es gibt heute vielfältige Angebote im Markt – von Demenz-WGs über Schlaganfall-WGs bis hin zu Pflegebauernhöfen. Dort ist eine Pflegekraft dann eigenständig für die Versorgung von mehreren Personen zuständig und muss selbstständig darüber entscheiden, ob sie einen Arzt situativ hinzuzieht oder nicht. Pflege wird künftig auch eine tragende Rolle in der Entwicklung neuer technischer Anwendungen übernehmen. Dafür braucht es akademisierte Pflegekräfte, die in der Lage sind, wissenschaftliche Publikationen zu lesen und die Ergebnisse auf konkrete Versorgungssituationen zu übertragen. 

Inwiefern profitieren Absolvent*innen der neuen Pflegstudiengänge von dem – im Vergleich zur klassischen Pflegeausbildung – doch sehr aufwendigen Studium? 

Künftig wird es nicht mehr die Pflegekraft geben, die alles macht. Wir qualifizieren unsere Studierenden für die Arbeit am und mit dem Menschen. Darüber hinaus lernen sie, wissenschaftlich zu arbeiten, Studien zu recherchieren und zusammenzufassen und anschließend evidenzbasiert die Pflegeplanung für ganz konkrete Fälle zu erstellen. Unsere Vorstellung geht dahin, dass die Pflegenden später in der Praxis vier Tage in der Woche am Menschen arbeiten und einen Tag wissenschaftlich tätig sind, um die Versorgungssituation im Wohnbereich, aber auch ambulant und stationär zu verbessern.  

Das passiert aber noch nicht konkret, oder?

Wie gesagt, wir sind gerade in das zweite Semester gestartet. Das heißt, es gibt bundesweit noch gar keine Absolvent*innen aus primärqualifizierenden Pflegestudiengängen. Es bedeutet allerdings auch: Arbeitgeber sind noch nicht darauf vorbereitet, akademisches Personal im Pflegebereich einzustellen und adäquat einzusetzen. Hier fehlen noch Konzepte. Wir führen allerdings Gespräche mit einigen Einrichtungen, die den Mehrwert solcher Leistungen durchaus erkennen. Perspektivisch können unsere Absolvent*innen natürlich auch weiterstudieren – beispielsweise Gesundheitswissenschaften oder Pflegepädagogik – bis hin zur Promotion. Grundsätzlich erhalten unsere Studierenden nach sieben Semestern Regelstudienzeit zwei Abschlüsse: den akademischen Grad Bachelor of Science und den Abschluss zu Pflegefachfrau_mann. Beide sind international anerkannt.

Eine Besonderheit der Ausbildung an der ASH Berlin ist das „Skills Lab“ für praktische Übungen im geschützten Raum. Können Sie derzeit dort ausbilden?

Ja, das unser Skills Lab ist eröffnet. Aufgrund der aktuellen Situation sind wir allerdings provisorisch in größere Räumlichkeiten gezogen, weil wir dort mit mehreren Personen arbeiten können.  Das Skills Lab besteht aus zwei Räumen, die durch einen Regieraum miteinander verbunden sind. Der eine Raum ist einem klassischen Krankenhauszimmer nachempfunden, der andere imitiert eine Häuslichkeit mit Küchenzeile, Dusche, Toilette etc. Unsere Studierenden üben dort an sich selbst oder an Puppen pflegerische Handlungen ein, bevor sie in die Praxis gehen. Das ist für uns ein wichtiger Schritt, weil wir hier den Theorie-Praxistransfer verbessern. Im Rahmen eines vom der IFAF Berlin geförderten Projektes wollen wir außerdem bestimmte pflegerische Situationen mittels Virtual und Augmented Reality darstellen – zum Beispiel die Blutentnahme und das Legen einer Magensonde. Hier geht es weniger um Fingerfertigkeit als darum, die Abläufe in verschiedenen Szenarien einzuüben. Kooperationseinrichtung ist das Deutsche Herzzentrum Berlin. 

Inwiefern nutzen Sie im Rahmen des Studiengangs Pflege die Standortvorteile Berlins?

Berlin ist ein Gesundheitsstandort. Das merkt man auch. Wir haben hier viele gesundheitsbezogene Studiengänge. Auch wenn wir sicherlich noch einige Stellschrauben nachjustieren müssen, sind wir in der akademischen Ausbildung der Gesundheitsfachberufe am Standort strukturell recht gut aufgestellt. Um ein Beispiel zu nennen: In Kooperation mit der EHB Berlin und der Charité fördern wir gezielt die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Rahmen des Projektes interTUT: Pflegestudierende arbeiten hier Seite an Seite mit Medizinstudent*innen der Charité und Physio- und Ergotherapeut*innen. Auch Studierende der neuen Hebammenstudiengänge sollen später dazukommen.  

Was sollten Menschen mitbringen, die sich für ein Pflegestudium an der ASH Berlin interessieren?  

Spaß am wissenschaftlichen Arbeiten. Und sie sollten natürlich gern mit Menschen arbeiten und das auch verknüpfen. Sie brauchen außerdem Ausdauer, denn das Studium ist hart. Das Gesetzt schreibt derzeit 6.400 Pflichtstunden vor. Das heißt, dass den Studierenden neben den Vorlesungen, Übungen und Praktika kaum Freizeit bleibt. Andererseits ist das Pflegestudium an der ASH Berlin sehr spannend; man kann vieles ausprobieren. Aufgrund unseres Schwerpunkts „Gerontologie und Diversity“ versuchen wir auch über unsere Kooperationen, das Versorgungsbild vielfältig darzustellen. Damit unsere Studierenden lernen, auch Dinge abseits der klassischen Versorgung zu sehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. (vdo)

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