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02.10.2024„Kollaboration statt Wettbewerb“
Wie können wir uns künftig möglichst gesund ernähren und gleichzeitig die Erde als Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen erhalten? In Tempelhof-Schöneberg entsteht der Food Campus Berlin: Wissenschaft, Wirtschaft und Politik sollen hier künftig neben- und miteinander an neuen Lösungen für ein nachhaltiges Ernährungssystem arbeiten. Noch existiert der Campus ausschließlich als virtuelle Community, in rund zwei Jahren soll das Projekt auch physisch verortet sein. Unter anderem wird die landeseigene WISTA GmbH innerhalb des Campus‘ ein Gründungszentrum für FoodTech-Start-ups mit dem Schwerpunkt „Smart Protein“ entwickeln und betreiben. Was darüber hinaus geplant ist und warum die Themen alternative Ernährungslösungen und Planetary Health höchste Dringlichkeit haben, erzählt Lia Carlucci. Seit April 2024 ist sie Geschäftsführerin des Food Campus Berlin. Für die Ernährungswissenschaftlerin, Innovationsmanagerin und Gründerin ist der Campus ein Herzensprojekt.
Frau Carlucci, das Ökosystem der Erde ist schon lange aus dem Lot. Was hat unsere Ernährung damit zu tun?
Sechs von neun der planetaren Belastungsgrenzen sind inzwischen überschritten. Das wurde zuletzt 2023 in einer Meta-Studie zum Gesundheitszustand unserer Erde von 30 internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um Johan Rockström vom Stockholm Resilience Centre validiert. Unser Lebensmittelsystem ist ein immenser Treiber für das Überschreiten dieser planetaren Grenzen. Rund 30 Prozent der weltweit emittierten CO2 Emissionen stammen aus der Lebensmittelbranche. Sie ist außerdem mitverantwortlich für 70 Prozent des Artensterbens auf der Erde. Der Anbau von Monokulturen spielt dabei ebenso eine Rolle wie etwa die Abholzung von Regenwäldern. Die Lebensmittelindustrie hat darüber hinaus einen entscheidenden Anteil daran, dass Süßwasser immer knapper wird. Es muss sich dringend etwas ändern, wenn wir es schaffen wollen, ein Ernährungssystem zu kreieren, das 2050 zehn Milliarden Menschen ernähren kann und zeitgleich den Planeten nicht weiter ausbeutet. Ein hoher Innovationsdruck.
Welches sind die zentralen Hebel und Stellschrauben?
2019 hat die EAT-Lancet Commission das Konzept der Planetary Health Diet publiziert, die gesund für den Menschen und die Erde ist. Grob gesprochen, sollte die Hälfte unseres Tellers mit Gemüse gefüllt sein. Der Fleischkonsum in Deutschland müsste um 75 Prozent reduziert werden: von aktuell über ein Kilo Fleisch auf 300 Gramm pro Person und Woche. Das bedeutet nicht, dass die Menschen nicht auch in Zukunft ihrer Fleischeslust nachgehen können. Wir müssen allerdings umdenken. Wir müssen verstehen, dass Fleisch auch aus anderen Rohstoffen bestehen kann als dem Tier.
Und das sind?
Es gibt bereits gute Alternativen. Pflanzenbasiertes, fermentationsbasiertes – das ja noch nicht zugelassen ist – oder aber zellkultiviertes Fleisch. Letzteres ist tierischen Ursprungs hat, wird aber anders hergestellt. Hier liegt wirklich der größte Hebel. Das Ökoinstitut und Greenpeace haben in einer Studie hochgerechnet, dass durch solche Alternativen allein in Deutschland bis zu 40 Prozent der aktuell genutzten landwirtschaftlichen Flächen für anderweitige Nutzung frei würden. Wenn wir dort andere gesunde Lebensmittel anbauen würden, könnten wir bis zum 70 Millionen Menschen zusätzlich versorgen und somit auch einen großen Beitrag dazu leisten, die Balance zwischen globaler Unter- und Überernährung wieder herzustellen.
Es geht also doch um mehr Getreide und Gemüse?
Es können auch Rohstoffe sein für Fleischalternativen. Und das sind dann vor allem Hülsenfrüchte und Pilze. Aber die müssten nicht eins zu eins konsumiert werden. Den Menschen nur Gemüse vorzusetzen, ist keine Lösung. Wir sind zu sehr daran gewöhnt, Fleisch zu essen. Entscheidend ist: Es wird sich nur der Grundstoff ändern. Vom Nährstoffprofil und sensorisch werden die Produkte genauso schmecken wie tierisches Fleisch. Die gesamte Branche der Fleischalternativen ist ja noch relativ jung. Hülsenfrüchte und Tofu haben im asiatischen Raum natürlich eine lange Tradition. Aber Produkte, die Fleisch wirklich nachahmen, gibt es erst seit rund zehn Jahren. Und die ersten waren sehr ungesund – voller Farb-, Konservierungsstoffe und Geschmacksverstärker. Inzwischen gibt es Produkte, die wirklich komplett ohne Zusatzstoffe auskommen. Vom Proteingehalt her sind viele identisch mit tierischen Fleischprodukten. Ein weiterer positiver Aspekt: Sie enthalten weniger Cholesterin und keine Antibiotika.
Welches ist Ihre Zielsetzung für den Food Campus Berlin?
Am Food Campus Berlin setzen wir uns für ein Ernährungssystem ein, das gesund und nachhaltig ist. Unsere große Vision ist es, Europas führenden Hub für die Zukunft der Ernährung aufzubauen. Unsere thematischen Schwerpunkte dabei sind die Bereiche Smart Protein – also Fleischalternativen – Robotics & KI und personalisierte Ernährung. Wir wollen über 360 Grad die gesamte Lebensmittelbranche abdecken. Unser großes Mantra ist „Kollaboration statt Wettbewerb“. Die großen Probleme dieser Welt werden wir nicht lösen, wenn wir innerhalb einer Branche gegeneinander arbeiten. Auch die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik muss weiter intensiviert werden. Und da sehen wir unsere Rolle: Als physischen Ort, an dem in dem sich Menschen begegnen und als Matchmaking-Plattform für unsere Mieterinnen und Mieter.
Warum ist Berlin ein guter Standort für den Food Campus Berlin?
Was ich an Berlin so großartig finde, ist, dass es eine unglaublich dynamische Stadt ist. Rund ein Viertel der Menschen hat hier einen internationalen Hintergrund. Diesen besonderen Spirit versuchen wir auf dem Campus mit abzubilden. Und natürlich gibt es in Berlin viel Wissenschaft, mit der wir auch schon zusammenarbeiten. So sitzt in unserem Beirat etwa Dr. Sascha Rohn, Professor für Lebensmittelchemie von der TU Berlin. Auch die HTW Berlin ist auch Teil unserer Community. Meine Idee ist es, einen Talentpool zu schaffen, über den unsere künftigen Mieterinnen und Mieter Fachkräfte akquirieren können – idealerweise unter den vielen tollen Talenten, die wir hier in Berlin ausbilden.
Wer sind die Zielmieterinnen und -mieter des Food Campus Berlin?
Das geht entlang der gesamten Lebensmittel-Wertschöpfungskette: Von Saatgutherstellern über Maschinenhersteller bis hin zu lebensmittelproduzierenden Unternehmen. Wir sprechen zum Beispiel auch mit Cateringunternehmen sowie Forschungseinrichtungen. Darüber hinaus interessieren uns auch angrenzende Industrien wie VC Investment Fonds oder die Marktforschung. In Berlin leben aktuell mehr als 3,7 Millionen Menschen. Und die sind größtenteils Early Adopter, also sehr progressiv. Das ist ein Riesenmarkt.
Gibt es denn schon erste Mieterinnen- und Mieter?
Ja, erste Verträge sind unterzeichnet. Aber die Namen kann ich noch nicht nennen.
Seit August kooperiert der Food Campus Berlin mit der landeseigenen WISTA Management GmbH, die einen „Smart Protein Hub & Makerspace“ auf dem Gelände entwickeln und betreiben wird. Was soll dort passieren?
Die Grundphilosophie der WISTA entspricht der unseren: Interdisziplinarität zu fördern und Menschen auch aus verschiedenen Branchen zusammenzubringen. Das werden wir dort umsetzen. Auch kleine FoodTech-Start-ups sollen im Smart Protein Hub künftig Flächen und Infrastruktur mieten und nutzen können, um nachhaltige Proteine auf Zell- oder Pflanzenbasis zu erforschen und zu entwickeln. Innovationen im Lebensmittelbereich voranzutreiben, ist forschungsintensiv. Zugang zu Forschungsfläche zu bekommen ist nicht leicht. Es wird im Hub außerdem einen Sensorikraum, eine Showküche und Co-Working-Spaces geben. Mit der WISTA steht uns bei der Entwicklung des Gründerzentrums ein sehr erfahrener und gut vernetzter Partner zur Seite.
Geplant sind weitere Kompetenzzentren, etwa zum Thema individualisierte Ernährung.
Exakt. „Personalized Nutrition“ ist ein großer Hebel, um die Gesundheitskosten perspektivisch zu reduzieren. Erste Maßnahmen werden bereits erfolgreich im B2C-Bereich angewendet, jedoch ist der Impact in der Gemeinschaftsverpflegung und der Gastronomie natürlich noch viel größer. Unser heutiges Ernährungssystem erwirtschaftet allein in Deutschland rund 230 Milliarden Euro pro Jahr. Demgegenüber stehen Folgekosten durch ungesunde Ernährung in Höhe von jährlich rund 16 Milliarden Euro. 70 Prozent davon sind Gesundheitskosten, 30 Prozent sind Umweltkosten. Durch individualisierte Ernährung lassen sich ernährungsmitbedingte Erkrankungen wie Diabetes, Adipositas oder Herz-Kreislauferkrankungen eindämmen, die inzwischen über 80 Prozent aller Krankheiten ausmachen. Unsere Ernährung ist dabei so individuell wie unser Fingerabdruck. Jeder und jede von uns hat seinen oder ihren eigenen Stoffwechsel und eigene Ansprüche an die Ernährungsform. Personalisierte Ernährung ermöglicht es, stärker in die Prävention gehen – daheim ebenso wie in Kindergärten, Schulen, Kantinen, Krankenhäusern oder Seniorenheimen.
Und worum geht es beim Thema „Robotics & KI“?
Unter anderem um die Automatisierung in der Produktion. Fachkräftemangel ist ja auch in der Lebensmittelbranche ein Riesenthema. Unternehmen können durch Robotik und KI effizienter, wirtschaftlicher und nachhaltiger werden. Es gibt beispielsweise Agrarroboter, die zielgerichtet kranke Pflanzen identifizieren und behandeln, wodurch viel weniger Pestizide eingesetzt werden müssen. Unser Fokus sind die Chancen, die sich durch das Zusammenspiel von Menschen, Unternehmen und Maschinen für die Lebensmittelindustrie ergeben.
Noch existiert der Food Campus Berlin ausschließlich als virtuelle Community. Wann soll der Bau starten?
Unsere Finanzierung steht. Sie ist allerdings gekoppelt an eine gewisse Vorvermietungsquote. Wir sind dran, diese zu erreichen. Dann können die Bagger endlich loslegen. Geplant ist die Eröffnung des Food Campus Berlin für Jahreswechsel 2026/27.
Das Konzept des Food Campus soll ausgeweitet werden auf andere Länder. Ist Berlin Pilot-Projekt?
Unser Fokus liegt gerade zu 90 Prozent auf Berlin. Aber wir wissen alle, dass die Ernährungswende – ebenso wie die Energiewende – nicht an den Landesgrenzen aufhört. Wir müssen internationale Lösungsansätze finden. Wir sind derzeit in Gesprächen mit Kigali in Ruanda und der Regierung in Singapur. Aber das ist alles noch sehr frühphasig.
Mal ganz weg von Forschung und Politik: Wie kann jeder von uns über seine Ernährung helfen, den Planeten zu retten?
„Project Drawdown“, eine der weltweit bekanntesten Klima-NGOs, hat 2021 die 20 größten Hebel identifiziert, die Individuen und Einzelhaushalte nutzen können, um den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren. Ganz oben in der Liste steht pflanzenreiche Ernährung, gefolgt von weniger Lebensmittelverschwendung. Wir sehen also wie wichtig Veränderung im Ernährungsverhalten ist. Elektro-Autos finden sich erst auf Platz zwölf.
Interview: Ernestine von der Osten-Sacken
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- Brain City Berlin Story: Think Tank für die Ernährung der Zukunft