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    Blick über den Tellerrand hinaus

Mit einem Transferzertifikat bescheinigt die TU Berlin Studierenden, die sich mit Methoden und Fragestellungen des Wissens- und Technologietransfers beschäftigt haben, praxisnahe Kompetenzen. Durch das im Dezember 2023 erstmals verliehenen Zertifikat will die Universität zugleich nach innen und außen die Bedeutung von inter- und transdisziplinärer Forschung sichtbar machen.

 „Motivation, sich neue Inhalte zu erschließen“, „Umgang mit Komplexität“, „Prozessanalyse und -gestaltung“ und „Teamfähigkeit“ – das sind nur vier von insgesamt 14 Skills, die ein Forschungsteam am Fachgebiet Konstruktion von Maschinensystemen an der Technischen Universität Berlin (TU Berlin) in Form eines „Kompetenzrads für missionsorientierten Transfer und Innovation“ erstellt hat. Allerdings handelt es bei diesen vier Fähigkeiten offenbar um Schlüsselkompetenzen, die vielen Mitarbeitenden in Wissenschaft und Forschung fehlen.

Zu einem entsprechenden Ergebnis kamen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der TU Berlin über zwei aufeinander aufbauende Umfragen. Es ging ihnen darum, herauszufinden, welche Kompetenzen für innovationsorientierte und wissensbasierte Transferprozesse wichtig sind. „Ausgangspunkt war eine umfassende Literaturanalyse transferrelevanter Kompetenzen. Diese wurden geclustert und zu Typen verdichtet“, erläutert Thies Johannsen, wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem Verbundprojekt „Transferkompetenzen vermitteln“, an dem neben der TU Berlin das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) und die Hochschule München beteiligt sind.

Anhand der definierten Kompetenzcluster befragte das Team der TU Berlin anschließend Geschäftsführungen und Forschungsabteilungsleitungen in 200 KMU aus den Branchen KfZ-Bau, Chemie, Elektrotechnik und Maschinenbau dazu, welche Kompetenzen ihre Mitarbeitenden in Forschungsprojekten brauchen. „Dem haben wir die Ergebnisse einer deutschlandweiten Befragung von 1.100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entgegengestellt, in der diese sich selbst in Bezug auf die im Kompetenzrad definierten Fähigkeiten einschätzten sollten. Man muss dabei natürlich berücksichtigen, dass es sich um subjektive Perspektiven handelte. Dennoch lässt sich daraus ein Delta ableiten, das einen Qualifizierungsbedarf in der Wissenschaft nahelegt “, so Johannsen. Im Team vom Prof. Dr. Henning Meyer am Institut für Maschinenkonstruktion und Systemtechnik der TU Berlin setzen er und seine Kolleginnen und Kollegen seitdem verstärkt auf die Entwicklung praxisorientierter Qualifizierungsformate für Studierende.

Lehre und Forschung im Sinne der „Third Mission

Jüngster Ansatz ist das neue Transferzertifikat, das Ende des Wintersemesters 2023/24 erstmals von der TU Berlin verliehen wurde. Die Idee dazu hatte Thies Johannsen: „Überall wird fehlendes Transferwissen gerade in kleinen und mittelständischen Unternehmen beklagt, aber wenig dagegen getan“, sagt er. „Ich habe mich daher mit der Frage beschäftigt, wie man für das Thema Transfer prototypisch in der akademischen Ausbildung qualifizieren kann. Im Sinne der ‚Third Mission’ geht es uns darum, überfachliche Kompetenzen und Fähigkeiten in Wissenschaft und Forschung breit angelegt zu vermitteln und zu fördern. Übergeordnet gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen – das ist heute nur im kollaborativen Schulterschluss von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft möglich. Das Zertifikat ist ein Vorstoß, dies zu verstetigen.“

Das Programm für das neue Transferzertifikat steht grundsätzlich sämtlichen Studierenden der TU Berlin offen. „Es richtet sich prinzipiell an alle, die ihren Fokus erweitern, ihr Profil schärfen und ihre Forschung zur Wirkung bringen wollen“, so Johannsen. Kern und zugleich erstes Pflichtmodul für das Zertifikatsprogramm ist die Lehrveranstaltung „Engineering for Impact“. Als integrierte Veranstaltung vereint der Kurs Vorlesungselemente, Workshops und Gastvorträge von Praktikerinnen und Praktikern. „Wir versuchen in der Veranstaltung, praxisorientiert und gleichzeitig fundierte in das Feld Transfer einzuführen“, erläutert Thies Johannsen. „Regelmäßig laden wir Referierende aus verschiedenen Bereichen zu uns ein. Im vergangenen Semester waren beispielsweise Vertreterinnen und Vertreter vom KI Park in Berlin-Mariendorf, dem Museum für Naturkunde Berlin, der University of Londonund dem Fraunhofer IAO bei uns zu Gast.“

In kleinen Gruppen entwickeln die Studierenden außerdem konkrete Anwendungskonzepte für mögliche Innovationen. Eine der Gruppen beschäftigte sich im Wintersemester etwa mit einer Sicherheitstechnik für Demenzkranke, die über einen Bewegungsradar funktioniert. Von den Lehrkräften werden die Studierenden gecoacht und methodisch angeleitet. Johannsen: „Die Studierenden lernen, praxisorientiert eigene Ideen zu entwickeln, vorhandene Ideen weiterzudenken und eigenständig praktische Probleme zu lösen.“ Über das Pflichtmodul „Engineering for Impact“ hinaus müssen die Studierenden zwei Vertiefungsmodule belegen, die sie frei wählen können: Eines aus dem MINT-Bereich – also aus dem Spektrum Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft oder Technik –, das andere aus dem Bereich der Geistes- oder Sozialwissenschaften. Beide Veranstaltungen sollten allerdings einen klaren Transferbezug haben. Finale Voraussetzung für das Zertifikat ist eine Abschlussarbeit, die auch eine transferorientierte Bachelor- oder Masterarbeit sein kann.

Holistisch denken, methodisch geschult arbeiten

Erste Studierende der TU Berlin haben das Transferzertifikat bereits erhalten. Nach Einschätzung von Thies Johannsen nimmt die Universität mit dem Zertifikat eine Vorreiterrolle ein. „Gerade in Verbindung mit dem bereits existierenden Nachhaltigkeitszertifikat und dem ebenfalls neuen Ethikzertifikat hat die TU Berlin damit auch international ein Alleinstellungsmerkmal.“ Eines, das zugleich dem Gründungsgeist der TU Berlin entspricht: „Seit der Neueröffnung der Universität nach dem Zweiten Weltkrieg gehört es zu unserem Auftrag, technische Disziplinen auch immer vor dem Hintergrund ihres gesellschaftlichen Einsatzes holistisch mitzudenken. Diese Reflexionsfähigkeit möchten wir unseren Studierenden mit dem Transferzertifikat mitgeben. Und zwar methodengestützt und in unterschiedlichen Bereichen.“

Es geht also um den Blick über den Tellerrand hinaus. Denn Anwendungsmöglichkeiten für das erworbene und erforschte Wissen zu finden und dabei auch ein Verständnis für die Probleme und Herausforderungen der Zeit mitzubringen, ist eine sehr komplexe Aufgabe, die unterschiedlichste Stakeholderinnen und Stakeholder miteinschließt. Johannsen: „Wir versuchen, Transfer sehr weit zu denken und für die dritte Leistungsdimension neben Lehre und Forschung in der Universität Sichtbarkeit zu generieren – und zwar innen und außen.“

Bisher haben erst zwei Studierende das Transferzertifikat erhalten. Doch das inter- und transdisziplinär angelegte Konzept scheint anzukommen. Im Wintersemester 2023/24 war das Seminar „Engineering for Impact“ so voll wie nie. Und auch in der Praxis scheinen das Zertifikat und die damit verbundenen Kompetenzen auf Interesse zu stoßen, wie Thies Johannsen bestätigt. „Eines der schönsten Komplimente für uns ist, wenn Studierende zurückkommen und sagen ‚Was wir im Beruf machen, setzt nahtlos dort an, wo wir im Seminar aufgehört haben‘. Das freut uns natürlich sehr, denn es zeigt: Wir sind auf dem richtigen Weg.“ (vdo)

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