• Besucher:innen im "Pollinator Pathmaker" vor Naturkundemuseum Berlin

    Garten-Kunst aus der Insektenperspektive

„Pollinator Pathmaker“ heißt das lebendige Kunstwerk vor dem Museum für Naturkunde Berlin, in dem es derzeit blüht, summt und flattert. Mehr als 7.000 Blumen und Gräser pflanzte die britische Künstlerin Alexandra Daisy Ginsberg auf einem rund 700 Quadratmeter großen Areal – mithilfe eines Algorithmus und wissenschaftlicher Unterstützung. Ihr Ansatz ist klimapositiv – und regt zum Mitmachen an.

Autos dröhnen auf der Invalidenstraße. Es ist früher Nachmittag und der Verkehr in der Berliner Innenstadt ist in vollem Gange. Heiße Luft flirrt in der Sommerhitze über dem grauen Asphalt der Straße. Nur wenige Meter weiter – auf dem Platz vor dem Eingang des Museums für Naturkunde Berlin – schaut es ganz anders aus: In einem wegedurchzogenen Beet von rund 700 Quadratmetern Fläche wachsen mehr als 700 Pflanzen 80 unterschiedlicher Arten scheinbar wild durcheinander. Mohn und Kornblume blühen her ebenso wie Margeriten, Blütensalbei, Balkan-Bärenklau oder Wolfsmilch, dazwischen allerlei Gräser. Hummel, Bienen und Schmetterlinge fliegen von Blüten zu Blüte, saugen Nektar, tragen Pollen weiter. Zur nächsten Pflanze und hinaus in die Stadt.

Alles wirkt wild und folgt doch einem klaren System  

Urban Gardening – das ist für Berlin nichts Neues. Doch dieses kleine Insektenparadies geht konzeptionell darüber hinaus. „Der ‚Pollinator Pathmaker‘ ist ein klimapositives Kunstwerk für andere Lebewesen“ erläutert die britische Künstlerin Alexandra Daisy Ginsberg. Mithilfe eines Teams von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat sie einen Pflanz-Algorithmus entwickelt, der Gärten und Beete nicht für das menschliche Auge, sondern aus der Perspektive der Bestäuber heraus gestaltet. „Insekten sehen die Welt anders als wir“, sagt Ginsberg. Bienen können beispielsweise kein Rot sehen, Schmetterlinge wiederum erkennen ultraviolettes Licht, das für uns unsichtbar ist.“ Der Pflanz-Algorithmus des Pollinators berücksichtigt die Spezifika und Bedürfnisse der Bestäuber ebenso wie deren Gewohnheiten, um ihnen einen idealen Lebensraum zu bieten. Vor allem aber geht es der Künstlerin darum, in den Menschen Empathie für andere Spezies zu wecken, sie zum Selbstpflanzen zu aktivieren und damit etwas zum Erhalt der Artenvielfalt beizutragen. „Ich glaube fest daran, dass wir, indem wir Kunst pflanzen statt sie nur zu betrachten, eine fürsorgliche Beziehung zu ihr aufbauen“, erläutert sie ihren Ansatz und ergänzt: „So stellen wir die Natur nicht nur dar, sondern nehmen sie selbst als Kunst wahr.“

Per KI erstellter Pflanzplan mit individueller Note

 Ähnlich wie die Kunstwerke des „Land Art Movements“ der 1960er- und 1970er-Jahre integriert „Pollinator Pathmaker“ die Natur in künstlerische Arbeiten. Und in Anlehnung an die „Sozialen Skulpturen“ von Joseph Beuys macht Ginsbergs lebendes Kunstwerk menschliches Handeln zum Teil des Projekts. Denn mit dem Tool kann jeder zum Gartenkünstler werden – ob auf dem Balkon oder im eigenen Garten. Das Pflanz-Programm ist über die Website Pollinator.art frei zugänglich. In wenigen Schritten definiert man per Mausklick, die Größe des Pflanzareals, Standort, Bodenbeschaffenheit und Lichtverhältnisse. Eine individuelle Note lässt sich im „Empathie“-Teil einbringen. Hier kann man die gewünschte Menge der Pflanzenarten bestimmen, ob der kleine Garten klar oder komplex angelegt sein soll und auch, ob die Insekten später in Bahnen oder kreuz und quer über das Terrain fliegen sollen. Als Ergebnis spuckt der Pollinator eine Liste jeweils geeigneter Pflanzen in Form eines PDFs aus – samt Pflanzanleitung und einem in exakte Quadrate unterteilten Pflanzplan. Sollten einzelne Pflanzen nur schwer zu beschaffen sein, listet das Tool auch passenden Ersatz. Besonders schön: Sämtliche Blumen und Gräser wurden von der Künstlerin zur Veranschaulichung liebevoll illustriert.

Alexandra Daisy Ginsberg entwickelte das insektenfreundliche Pflanzplanungstool 2020 gemeinsam mit einem Team von Informatikern, Biologen und Gartenbauspezialisten für das „Eden Project“: 2021 wurde in Cornwall die erste Pollinator Pathmaker Edition umgesetzt. 2022 pflanzte sie dann vor den Serpentine Galleries in London eine zweite Edition. Im Mai 2023 begann sie – finanziert und unterstützt von der LAS Art Foundation und in Zusammenarbeit mit dem Museum für Naturkunde Berlin ­– die dritte Version anzulegen, die noch bis Ende 2026 vor dem Museum zu sehen sein wird. Speziell für Berlin und für die Anwendung in Deutschland wurde das Tool um Pflanzen erweitert, die unter den klimatischen Bedingungen Kontinentaleuropas wachsen und gedeihen.

Vernetzung mit Schulen, Vereinen, gemeinnützigen Organisationen

Als lebendes Kunstwert vernetzt sich der Pollinator Pathmaker – und wächst ständig weiter. Über die vielen Gartenkünstlerinnen und -künstler, die mit dem Tool ihre eigenen Blütenkunstwerke schaffen, über die Bestäuberinsekten, die es mit den Pollen weiterverbreiten, – und über Schulen, Vereine und gemeinnützige Organisationen, die von der LAS Art Stiftung dabei unterstützt werden, DIY-Gärten mit dem Pollinator-Algorithmus anzulegen. Mit dabei sind bisher etwa die „Schule an der Jungfernheide“ in Siemensstadt, der „Grüne Campus Malchow“ und Urban-Gardening-Projekte im Gleimviertel und auf dem Tempelhofer Feld. Begleitend bietet das Naturkundemuseum ein Bildungsprogramm an, das Schülerinnen und Schüler die Bedeutung der Insekten für unsere Umwelt vor Augen führt. Auch an Citizen-Science-Projekten können sie sich beteiligen. „Die Botschaft von Pollinator Pathmaker dreht sich um Empathie“, so Alexandera Daisy Ginsberg. „Darum, dass wir uns als Menschen nicht immer an erste Stelle stellen.“ Schon der Bau eines Insektenhotels kann helfen die Welt aus der Sicht anderer Lebewesen wie Bienen, Schmetterlingen oder Marienkäfern zu betrachten – und sie im Kleinen zu verändern. Der Pollinator Pathmaker ist ein Experiment. Klimawandel und Artensterben werden sich durch das Projekt sicherlich nicht aufhalten lassen. Aber es regt zum Denken an und verändert dadurch vielleicht auch Perspektiven. Mehr kann Kunst nicht erreichen. (vdo)

Mehr Informationen

„Pollinator Pathmaker“: 20. Juni 2023 bis 1. November 2026, Vorplatz des Museums für Naturkunde Berlin, Invalidenstraße 43, 10115 Berlin

Pollinator.art

 

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