• „Wir bringen das Material auf Augenhöhe“

Das Exzellenzcluster „Matters of Activity“ will mit einem „radikal interdisziplinären“ Forschungsansatz eine neue Materialkultur einleiten. Am 19. September veranstaltet das Cluster unter dem Titel „Out of Hands. Active, Ambiguous and Unsteady Matters“ seine Abschlusskonferenz in der Brain City Berlin. Dr. Christian Stein forscht an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet am Cluster Matters of Activity unter anderem das Projekt „Object Space Agency“. Im Brain City-Interview erzählt er mehr über die Konferenz, die Arbeitsweise des Clusters und erläutert, warum der Umgang mit Materialien uns mit herkömmlichen Forschungs- und Designansätzen aus den Händen gleiten kann.

Herr Dr. Stein, was macht die Forschung innerhalb des Clusters „Matters of Activity“ anders?

Matters of Activity ist hochinterdisziplinär. Im Cluster sind mehr als 40 Disziplinen vertreten, darunter Architektur, Kunst, Design, Philosophie, Biologie und technologische Fachrichtungen. Das ist extrem viel. Wir arbeiten daher auf einer Ebene, die wir „radikale Interdisziplinarität“ nennen. Das heißt, Interdisziplinarität wirkt bei uns nicht nur funktional im Sinne einer kompetenzvernetzenden Problemlösung. Radikale Interdisziplinarität basiert vielmehr auf der Idee, dass man im interdisziplinären Zwischenraum erst einmal Forschungsfelder, Ziele und eine gemeinsame Forschungskultur erarbeiten muss, um außerhalb etablierter Diskursräume auf neue Zielpfade einschwenken zu können. Das ist manchmal anstrengend und äußerst zeitfressend. Aber es ist Voraussetzung, um in einem Thema nicht nur tiefer, sondern auch woanders bohren zu können.

Das klingt abstrakt, können Sie das verdeutlichen?

Wir starten ein Projekt nicht mit einem gesetzten Ziel. Viel mehr definiert das Team im Prozess das Ziel, das es erreichen will. Dies ist eine neue Herangehensweise, die wir auch „Problemizing“ nennen. Es geht darum, in der Forschungsarbeit Probleme zu finden, die eben nicht offensichtlich sind. Denn Probleme, die bereits auf dem Tisch liegen, wurden meist schon vielfach bearbeitet. Bei uns können beispielsweise eine Architektin, ein Physiker, ein Informatiker, eine Kunsthistorikerin und ein Philosoph breit aufgestellt in einem Projekt zusammenarbeiten. Diese Methodik der interdisziplinären Kooperation fußt auf der Arbeit des Ende 2018 ausgelaufenen Exzellenzclusters „Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor“. In Matters of Activity sind die Ergebnisse zur Anwendung gekommen.

Mit Materialität als übergelagertem Thema?

Genau, die thematische Klammer des Clusters ist die aktive Materie, die ganz unterschiedliche Perspektiven inkludiert. Das bedeutet für uns vor allem, Material nicht mehr als etwas Statisches zu betrachten, das wir benutzen, um etwas zu erreichen. Das klassisches Materialverständnis setzt Kontrolle von außen auf eine physische Struktur und formt sie im Sinne einer Funktion.

Wir zwingen dem Material damit sozusagen unseren Willen auf?

So kann man das sehen. Das klassische Verständnis von Material formt es zu einem Objekt und zwingt ihm damit eine intellektuelle Logik auf. So gestalten wir letztendlich alle funktionalen Materialien, die uns umgeben – von technischen Geräten und Werkzeugen über Möbel bis hin zu Gebäuden. Im Cluster Matters of Activity heben wir diese statische Perspektive auf das Material auf und machen es damit zum Akteur. Wir bringen das Material auf Augenhöhe. Das heißt vor allem: es zum Sprechen zu bringen: Wie kann sich das Material selbst einbringen in eine Struktur? Und wie kann man dann in einer Art Co-Design gemeinsam mit den Materialien etwas erschaffen? Daraus wiederum erklärt sich, warum wir so hochgradig interdisziplinär aufgestellt sind, denn diese Perspektive strahlt in alle Bereiche hinein.

Gibt es ein Cluster-Projekt, das dieses „Sprechen mit der Materie“ verdeutlicht?

Im „Object Space Agency“ haben wir uns der Frage gewidmet, wie wir der interessierten Allgemeinheit einen anderen Zugang zum Material vermitteln können und uns mit alternativen Ausstellungsformaten beschäftigt. Die größte Ausstellung, die wir gemacht haben, war „Stretching Materialities“ im Tieranatomischen Theater auf dem Gelände der Charité. Hier haben wir versucht, die Materialität des Raums in die Ausstellung zu integrieren. Man konnte mit einem VR-Headset durch die virtuellen Etagen gehen, dabei unterschiedliche Aspekte von aktiver Materialität erleben und mit dem Material auch interagieren. Wir haben zum Beispiel mit einer „Wolkenmaschine“ eine reale Wolke in den Ausstellungsraum gesetzt. Die Besucherinnen und Besucher sind in der Virtuellen Realität dann auf die Größe eines Wolkenpartikels geschrumpft. Sie sahen und spürten am eigenen Leib, welch ungeheure Aktivitätskraft diese Partikel entfalten, wenn sie für Regen sorgen oder Kristallisationspunkte in der Wolke bilden. Und sie wurden selbst zum Teil der Ausstellung, da die Reaktion des Raumes auf sie sichtbar gemacht wurde. Wir wollten mit der Ausstellung keine Antworten geben, sondern neue Denkräume für den Umgang mit Materie erschließen.

Geht es bei Matters of Activity auch um eine neue Wertschätzung von Materialität?

Natürlich. Wir haben uns beispielsweise mit den Materialflüssen beschäftigt: wie Materialien gewonnen, verteilt, weggeworfen und recycelt werden. Aber auch mit unkontrollierbarer Materie, die unsere Welt gerade übernimmt. Vom Borkenkäfer, der ja keinerlei Grenzen oder ökonomische Interessen respektiert und gleichzeitig ökologische und ökonomische Strukturen verändert, bis hin zu fluoreszierenden Algenteppichen, die Ökosysteme völlig ersticken können. Ganz wichtig ist in diesem Kontext auch, dass wir Design und Gestaltung immer aktiv in den Forschungsprozess einbinden.

Könnte dieser Materialforschungsansatz zu einer neuen Form der Architektur und des Designs oder zu einem anderen Materialeinsatz in der Medizin führen?

Absolut. Das sind Forschungsfelder, mit denen wir uns bereits beschäftigen. Ich war beispielsweise mehrfach bei Hirnoperationen in der Neurochirurgie der Charité dabei. Es ging es uns um die Materialität des Geistes, die „graue Materie“. Wie lässt sie sich visualisieren? Wie kann man beispielsweise zeigen, wo die Grenze zwischen einem Tumor und gesundem Gewebe verläuft? Über solche Fragen ein tieferes Verständnis von Material aufzubauen, es modellhaft modellierbar zu machen und damit zu neuen Möglichkeiten etwa der chirurgischen Intervention zu kommen – daran forscht das Cluster unter anderem.

Am 19. September veranstaltet Matters of Activity im Silent Green Kulturquartier eine ganztägige Konferenz mit dem Titel „Out of Hand. Active, Ambiguous and Unsteady Matters“. Was hat es damit auf sich?

Diese Jahreskonferenz ist gleichzeitig die Abschlusskonferenz des Clusters. Die Exzellenzförderung läuft nach sieben Jahren Ende 2025 aus. Thematisch geht es darum, dass uns die Dinge immer mehr entgleiten. Viele sind ja der Meinung, dass wir eigentlich alles ganz gut unter Kontrolle haben. Ein wichtiges Ergebnis unserer Forschung ist allerdings, dass dies in vielen Bereichen überhaupt nicht der Fall ist. Materie richtet sich nicht nach unseren Regeln, bestimmt sie aber entscheidend mit. Die Vieldeutigkeit, aber auch die Unverlässlichkeit von Materie sind wichtige Eigenschaften, die man verstehen muss, um eine Materialkultur der Zukunft adäquat adressieren zu können. Das wollen wir auf der Konferenz thematisieren und zusammen mit Interessierten diskutieren.

Was sind die Highlights der Konferenz?

Eigentlich gibt es ausschließlich Highlights, denn wir haben ein durchgängig interessantes Programm. Wir freuen uns sehr, dass wir Karen Barad für die Keynote gewinnen konnten. Barad lehrt Feminismus, Philosophie und Geschichte des Bewusstseins an der University of California, Santa Cruz und vertritt damit ebenfalls einen radikal interdisziplinären Denkansatz. Außerdem wird es drei interdisziplinär gestaltete Panels geben, in denen jeweils zwei externe Gäste etwa 30-minütige Input-Talks halten. Diese Themen werden dann mit dem Publikum diskutiert, um den Bezug zu übergeordneten Fragestellungen einer neuen Materialkultur herzustellen. Und in den Flash Talks „Get a Grip?“ stehen kurze kontroverse Statements von Clustermitgliedern zur Diskussion. Abschließend versuchen wir, mit dem Cluster in einen Modus, der „aktiven Materie“ überzugehen: Wir möchten ein Netzwerk aufbauen, das unabhängig von der Exzellenzförderung die Heterogenität von Matters of Activity bewahren und operativ weitergestalten wird.

Matters of Actitity wird also weitergehen, auch wenn die Förderung Ende des Jahres ausläuft?

Wir hoffen es. Zwei Tage vor der Konferenz veranstalten wir einen Workshop zum Thema radikale Interdisziplinarität. Darin werden wir unsere Forschungsergebnisse vorstellen. Es wird aber auch um die Erfahrungen gehen, die wir in Summe mit den zwei Exzellenzclustern Bild Wissen Gestaltung und Matters of Activity gesammelt haben. Die Konferenz wird diese aufgreifen und die Ergebnisse präsentieren.

Warum ist Berlin ein guter Standort für interdisziplinäre Forschung?

Der Exzellenzstandort Berlin bildet mit Freier Universität Berlin, Technischer Universität und der Humboldt-Universität zu Berlin mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin ein exzellentes, auch international sichtbares Forschungsnetzwerk. Dies hilft uns, weltweit Talente für die Zusammenarbeit zu gewinnen. Zusätzlich ist Berlin ein Ort, an dem kreatives und interdisziplinäres Denken Tradition hat. Hier kommen sehr viele heterogene Akteurinnen und Akteure zusammen. Berlin ist ausgesprochen international, divers und bündelt viel kreative Energie – auch über die Wissenschaftslandschaft hinaus.

Interview: Ernestine von der Osten-Sacken

Mehr Informationen

Jahreskonferenz: „Out of Hand. Active, Ambiguous and Unsteady Matters“
19. September, 9 bis 21 Uhr
Silent Green Kulturquartier,  Gerichtstraße 35, 13347 Berlin

matters-of-activity.de

Programm und Anmeldung
Teilnahme kostenlos. Bitte vorab registrieren, denn die Anzahl der Plätze ist begrenzt.

 

Dr. Christian Stein forscht an der HU Berlin und leitet am Cluster "Matters of Activity" unter anderem das Projekt „Object Space Agency“. © Matters of Activity / HU Berlin

Mehr Stories