Die Welt mit allen Sinnen digital erleben

18.06.2019 |  Ein digitaler Lutscher, zarte Duftnoten per Mail verschicken oder sich den Wind virtuell um die Nase wehen lassen – die Forschung macht’s möglich. Ein Gastbeitrag von Thomas Heinrich Musiolik, Doktorand an der Universität der Künste Berlin mit dem Forschungsschwerpunkt „Experience in Digital Media“

Thomas Heinrich Musiolik ist Brain City Berlin-Botschafter und Doktorand an der Universität der Künste Berlin mit dem Forschungsschwerpunkt: „Experience in Digital Media“. Außerdem forscht er als Visiting Doctoral Researcher am Imagineering Institute (Malaysia) an den Themen „Artificial Intelligence“, „Robotic“ und „Multisensory Experience“.

Er ist außerdem Co Editor-in-Chief des internationalen Journals „Transactions on Leading-edge Synergistic Robots“. Darüber hinaus ist er Autor diverser Bücher und Artikel in Fachzeitschriften mit Schwerpunkt Marketing & Kommunikation.

 

Stellen Sie sich vor, Sie könnten jetzt die Zeitung aus der Hand legen und um die Welt reisen. Den frisch gebrühten Kaffee in Italien kosten, in jedem Store der Welt shoppen, mit Ihrem Schatz den Sonnenuntergang in Venedig genießen und zum Abschluss auf den Malediven nackt ins Meer springen. Und das alles sofort von zu Hause aus. Das geht inzwischen!

Gemeinsam mit meinen Kollegen, Prof. Dr. Adrian David Cheok, Direktor des Imagineering Institute (Malaysia) erforsche ich zukünftige Technologien für eine multisensorische Erlebnisgestaltung in digitalen Medien (Musiolik/Karunanayaka/Cheok 2019).

Rosenduft per SMS

So konnten wir vor einiger Zeit Scentee entwickeln, ein kleines Gerät, das Sie auf Ihrem Smartphone befestigen können. Sie werden dann beispielweise beim Erhalten einer E-Mail per Duft benachrichtigt oder können damit Duft-Botschaften direkt an Ihre Freunde verschicken. Scentee besteht aus einer Basiseinheit, die über den Kopfhöreranschluss mit dem Smartphone oder Tablet verbunden wird. Diese hat einen eingebauten LED-Ring, der bei Benachrichtigungen in unterschiedlichen Farben leuchtet.

Für den Geruch sorgt eine Duftkartusche, die in die Basiseinheit eingesetzt wird. Bei der Markteinführung  2011 besaß Scentee bereits fünf Geruchsrichtungen: Rose, Erdbeere, Kaffee, Lavendel und Rosmarin. Inzwischen gibt es bereits unterschiedliche Ausführungen solcher Smell-O-Phones auf dem Market, die auf unseren Ideen aufbauen. Ziel unserer Forschung ist es, Gerüche ohne den Einsatz von Chemikalien zu erzeugen, was noch nie zuvor getan wurde. Längerfristig eröffnet Scentee ganz neue Möglichkeiten, Erlebnisse in den digitalen Medien zu gestalten und diese mit dem Geruchsinn zu erleben. So könnten wir damit etwa das Foto eines leckeren Gerichts auf Instagram mit einer Duftnote versehen.

 

Riechen über die VR-Maske

Im Virtual Reality-Bereich sind wir bereits einen Schritt weiter: Angetrieben von der Gaming-Branche und den hohen Erwartungen der Gaming-Fans an immer neue Gadgets und Futures, arbeiten die Hersteller ständig an neuen Prototypen. Ideen und Innovationen werden schnell adoptiert und in einem atemberaubenden Tempo zur Marktreife gebracht. Auf Grundlage unserer Forschung entwickelte das Unternehmen Feelreal bereits im Jahr 2015 den ersten Prototypen einer VR-Gesichtsmaske, welche die Virtual Reality um zusätzliche Dimensionen erweitert. In ihrer jetzigen Ausführung erlaubt die Maske es Gamern beim Onlinespielen bis zu zehn verschiedenen Gerüche und Berührungen wahrzunehmen. Künftig soll das Angebot auf 255 Gerüche erweitert werden.

Das eben dargestellte Verfahren zur chemischen Aktivierung der Geruchsempfindens, ebenso wie die VR-Gesichtsmaske, hat mehrere Nachteile. Zum Beispiel geringer Steuerbarkeit, hohe Komplexität sowie hohe Kosten.

Außerdem müssen die Geruchskartuschen vom Konsumenten häufig nachgefüllt werden. Deswegen forschen wir seit längerem an der Entwicklung einer neuen Schnittstelle, die schwache elektrische Impulse an den Geruchsrezeptoren induzieren und Geruchsempfindungen erzeugen kann. Unser Ziel ist es, mit schwachen elektrischen Signalen die Geruchsrezeptoren zu aktivieren und somit Geruchswahrnehmungen zu erzeugen.

Die Empfindlichkeit menschlicher Geruchsrezeptoren gegenüber elektrischer Stimulation und deren Wirksamkeit wird unter Verwendung einer Stromsteuervorrichtung getestet. Diese ist mit einstellbaren Parametern ausgestattet: Frequenz sowie Strom zur Erzeugung der benötigten elektrischen Impulse. Um den Stimulationsprozess zu aktivieren, werden zwei Silberelektroden innerhalb des Nasenteils angelegt und dort die Riechnerven berührt.

Die geruchsempfindlichen Rezeptoren befinden sich in der Nähe des Riechkolbens und der Nasenmuschel (Nasenkoncha): Innerhalb der Nasenlöcher gibt es drei Bereiche, die als obere Nasenmuschel, mittlere Nasenmuschel und untere Nasenmuschel bezeichnet werden. Diese sind den so wichtigen olfaktorischen Rezeptoren am nächsten. Hier können die stimulierenden Elektroden angeordnet werden. Im Rahmen unserer Forschungsarbeit stimulieren wir hauptsächlich die Rezeptorzellen in diesem Bereich.

Sobald die Elektroden mithilfe eines medizinischen Experten platziert wurde, steuern wir diese über ein eigens dafür entwickelte Interface. Die geruchsempfindlichen Zellen werden mit wenigen Milliampere Stromimpuls gereizt. Bis zum heutigen Tag wurden nur sehr wenige Versuche unternommen, das olfaktorische System elektrisch zu stimulieren. In den meisten systembezogenen Studien verwendete man zur Aktivierung des Riechkolbens das Einblasen von Luft als olfaktorischen Stimulus.

Der digitale Lollipop simuliert Geschmack

Ein weiteres Beispiel unserer Arbeit ist der Digital Lollipop. Dieser kann Geschmack simulieren und über das Internet verschicken. Stellen Sie sich einfach einen digitalen Lutscher vor, der Geschmacksrichtungen virtuell synthetisiert, indem er die menschliche Zunge mit elektrischen Strömen stimuliert. Geschmack entsteht normalerweise durch die Reaktion zwischen ionisierten Materialien und den Geschmacksrezeptoren auf den Geschmacksknospen unserer Zunge. Der Geschmackssynthesizer besteht aus zwei dünnen Metallplatten, die auf und unter der Zunge platziert werden. Diese manipulieren die Geschmackssensoren über Wechselstrom und geringe Temperaturänderungen.

Das Gerät ist so bereits in der Lage, die fünf Hauptgeschmacksrichtungen herzustellen: Süß, Sauer, Salzig, Bitter und Umami (schmackhaft/würzig). Inzwischen haben wir auch begonnen, verschiedene Arten von Geschmacksrezeptoren auf der Zunge zu stimulieren. Doch bis wir in der Lage sind, vollkommene virtuelle Geschmackserlebnisse zu kreieren und modifizieren, wird sicherlich noch einige Zeit vergehe

Das Gefühl von Wind und Sonne

Für das nächste Beispiel nehme ich Sie mit auf ein Abenteuer:  Stellen Sie sich vor, Sie setzen Ihre VR-Brille auf und finden sich plötzlich im Salzburger Land auf einem Hügel wieder. Sie schauen die Piste herunter, ziehen die Bindung Ihres Snowboards fest und ab geht’s. Selbstverständlich haben Sie die schwarze Piste gewählt. Sie donnern den Abhang herunter, die Sonne brennt von oben und der Gegenwind wird immer stärker.

Was sich für Sie ganz gewiss noch nach Zukunftsmusik anhört, ist in der Forschung bereits Realität: Ambiotherm ist ein Gadget, welches mit der VR-Brille verknüpft werden kann. Mithilfe des Geräts lassen sich Sonne und Wind im virtuellen Raum simulieren. Ambiotherm besteht aus zwei Modulen: einem doppelten Ventilator sowie einem Modul, das für die Temperatur zuständig ist. Die zwei Ventilatoren werden an der Unterseite der VR-Brille angebracht und sind auf Mund und Nase gerichtet. Durch den ständig auf Hals und Rachenbereich einströmenden Wind, kann beispielsweise der eben beschriebene Gegenwind auf der Piste glaubhaft simuliert werden.

Das zweite Modul simuliert die Umgebungstemperatur im virtuellen Raum. Es wird am Nacken getragen undschmiegt sich wie ein Wärmekissen um den Hals. Bei Bedarf strahlt es Wärme vom Nackenbereich in den gesamten Körper aus. In mehreren Experimenten konnten Forscher*innen an der National University of Singapore bereits belegen, dass Wärmesimulation Einfluss auf den menschlichen Körper hat und die Körpertemperatur verändern kann. Noch ist Ambiotherm ein wissenschaftliches Experiment, doch es wird voraussichtlich im kommenden Jahr Marktreife erlangen. Genießen Sie die Pistenabfahrt!

 

Objekte fühlen über das Smartphone

Fehlt nur noch der digitale Tastsinn. Auch wenn dieser bereits von Computern und Geräten „aktiviert“ werden kann – zum Beispiel durch Wischen, Drehen, Ziehen und Drücken auf dem Smartphone – wird bis zur Marktreife der Technologie noch einige Zeit vergehen. Sowohl an der University of Pennsylvania als auch bei IBM Research in den Vereinigten Staaten arbeiten Forscher*innen an innovativen Technologien, um Dinge in Echtzeit digital berühren zu können. So wird es beispielsweise bald möglich sein, über Smartphones Objekte zu fühlen – durch den Einsatz von „mikroskopisch“ geringen Vibrationen. Und in naher Zukunft Jahren werden wir in der Lage sein, über elektrische Impulse ein Hologramm zu fühlen.

Dank der neusten Forschung zur Virtual Reality können außerdem bereits einige Eingabegeräte dem Menschen eine Kraftrückkopplung auf die Hände oder andere Körperteile vermitteln. Dadurch können wir uns durch Haptik und Sensorik als weitere Sinnesempfindung in der dreidimensionalen Welt orientieren und realitätsnahe Erlebnisse erhalten.

Ein Beispiel ist der ebenfalls von uns entwickelte Kissinger: Die Sensoren des Gadgets erkennen den Druck eines Kusses und übertragen ihn in Echtzeit an einen anderen Benutzer. Oder eine Benutzerin. Online knutschen – auch das geht also!

In den kommenden Jahren wird es uns sicherlich gelingen, diese Technik noch um den Geschmackssinn und Geruchssinn zu erweitern. Wir werden in der Lage sein, digitale multisensorische Erlebnisse psychologisch und technisch unter die Haut gehen zu lassen – und zwar intensiver und effektiver als in der realen Welt. Wir werden künftig ganz neue Einkaufserlebnisse haben, das Reisen neu kennenlernen, unsere Arbeit ganz anders gestalten, das Einkaufen revolutionieren. Kurz: Multisensorik im digitalen Raum wird unser gesamtes Leben verändern.