• Pflegerin gymnastiziert mit Senior:innen in einem Pflegeheim. Mit einem der Senioren macht sie einen "High Five"-Abschlag, Brain City Berlin

    Wieder fit für daheim

Können ältere Menschen durch gezielte Bewegung wieder selbständiger werden und vielleicht sogar aus dem Heim nach Hause zurückkehren? Das hat Brain City Botschafter Prof. Dr. Uwe Bettig mit seinem Team an der Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH Berlin) im Projekt CarePerform untersucht – mit überraschendem Ergebnis. Praxispartner des BMFTR-geförderten Projekts war die regionale domino-coaching Stiftung.

Ein alter Mann stürzt in seiner Wohnung und bricht sich den Oberschenkel. Nach Krankenhausaufenthalt und Rehabilitation landet er direkt im Pflegeheim, denn er kann sich nicht mehr selbstständig versorgen. Eine inzwischen alltägliche Situation. Die Anzahl Pflegebedürftiger in Deutschland steigt kontinuierlich an. 5,7 Millionen Menschen waren 2023 auf Pflege angewiesen, so der Barmer Pflegereport 2025. Fast doppelt so viele wie 2015. Und nach Angaben des Statistischen Bundesamts lebt aktuell rund ein Fünftel der pflegebedürftigen Menschen in Heimen. Das stellt das deutsche Gesundheitssystem vor gewaltige Herausforderungen. Plätze werden knapp und immer teurer, und Pflegepersonal ist vor allem für die physisch und psychisch fordernde Langzeitpflege schwer zu finden.

Ein vielversprechender Ansatz ist es daher, die Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen zu mobilisieren und ihnen dadurch die Rückkehr in die eigenen vier Wände zu ermöglichen. Genau dies bietet die domino-coaching Stiftung mit Hauptsitz im brandenburgischen Birkenwerder den Bewohnerinnen und Bewohnern ihrer Einrichtungen ohne zusätzliche Kosten an. Das domino-coaching™-Konzept: Ältere Menschen werden über ein individuelles Trainingsprogramm buchstäblich wieder auf die Beine gestellt. Sie werden fitter, gesünder, selbstständiger und mental ausgeglichener. Und das wiederum entlastet die Pflegekräfte – und bei „Heimkehrenden“ auch das Pflegesystem im Ganzen.

Doch wie wirksam ist das domino-coaching™-Konzept wirklich? Dies wollte die Stiftung wissenschaftlich evaluieren lassen und fragte Anfang 2024 bei der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW Berlin) an. Daraus entwickelte sich das vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) geförderte Transferprojekt „CareMore“ mit zwei Teilprojekten. Im Projekt „CareLaw“ untersuchte die HTW Berlin unter der Leitung des Juristen Prof. Dr. Martin Heckelmann die rechtlichen Rahmenbedingungen. Brain City Botschafter Prof. Dr. Uwe Bettig, Professor für Management und Betriebswirtschaft an der ASH Berlin, übernahm die wissenschaftliche Leitung des Teilprojekts „CarePerform“. Von Juni 2024 bis Ende November 2025 evaluierte er mit seinem Team in mehreren Phasen den Coaching-Ansatz der Stiftung. „Ich war zunächst ein bisschen skeptisch“, erinnert sich Uwe Bettig. „Der Weg aus dem Heim zurück nach Hause ist für Pflegebedürftige ja eher unüblich. Aber unsere Ergebnisse belegen, dass der Coaching-Ansatz tatsächlich funktioniert. Weil er die Grundbeweglichkeit erhöht und älteren Menschen die Angst vor Stürzen nimmt.“

Coaching, das heißt in diesem Fall: Speziell ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreuen pflegebedürftige ältere Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg und führen mit ihnen ein individuelles Übungsprogramm durch. Am Anfang definieren beide Parteien gemeinsam ein Behandlungsziel, das im Laufe des Prozesses regelmäßig überprüft und gegebenenfalls angepasst wird. Besonders intensiv ist das Programm für sogenannte Leuchtturmpatientinnen und -patienten, die generell noch recht fit sind und dadurch größere Chancen haben, autonomer zu werden. Ihr Trainingsprogramm kann bis zu vier Stunden am Tag umfassen. „Unsere Studie hat gezeigt, dass sich die Selbstständigkeit bei allen Teilnehmenden durch das Training deutlich verbessert hat“, so Uwe Bettig. „Von den Leuchtturmpatientinnen und -patienten konnten rund zwei Drittel tatsächlich in die Häuslichkeit zurückkehren.“

Insgesamt 67 Personen im Durchschnittsalter von 83,7 Jahren befragte das Team der ASH Berlin im Zeitraum von sechs Monaten. Sämtliche der Befragten waren zum Start der Untersuchung gerade in die Einrichtungen der domino-coaching Stiftung in Tegel, Oranienburg und Treptow aufgenommen worden. „Zunächst einmal haben wir demografische Daten erhoben wie Alter, Geschlecht, Bildungsniveau oder Wohnsituation der Pflegebedürftigen vor dem Einzug ins Heim. Ausschlusskriterien waren starke kognitive Einschränkungen wie Demenz und schwere Depressionen“, erläutert Uwe Bettig. 34 Studienteilnehmende wurden als „Leuchttürme“ kategorisiert.

Zu drei Messzeitpunkten wurden sämtliche Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer jeweils über mehrere Monate hinweg wissenschaftlich begleitet und anhand standardisierter Erhebungsinstrumente befragt. Die erste Phase startete direkt mit der Aufnahme der Teilnehmenden im Heim, die zweite drei Monate später und die dritte begann weitere drei Monate danach. Die Gespräche selbst dauerten maximal 60 Minuten, um die Seniorinnen und Senioren nicht zu überfordern. „Wir haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu ihrer Mobilität befragt, Depressionssymptome erhoben, den Grad der Selbstständigkeit zum jeweiligen Messzeitpunkt ermittelt, Sturz-Bedenken abgefragt und Fragen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität gestellt“, so Bettig. „Außerdem haben wir erhoben, ob und inwieweit die individuellen Entwicklungs- und Therapieziele durch das Coaching erreicht werden konnten.“ Denn ein Kernziel des domino-coachings ist es, die Lebensqualität der Pflegebedürftigen zu steigern.

Die Ergebnisse der Studie bestätigten, dass körperliches Training auch im hohen Alter wirksam ist. „Die allgemeine Gesundheitswahrnehmung aller Befragten hat sich über den Untersuchungszeitraum hinweg durch das Coaching deutlich verbessert und die körperlichen Schmerzen haben abgenommen“, so Bettig. Die wahrgenommene Autonomie wuchs dabei vor allem bei den grundsätzlich fitteren „Leuchttürmen“. Mit dem erreichten Therapieziel zeigten sich letztendlich nicht nur die befragten Bewohnerinnen und Bewohner, sondern auch die beteiligten Coaches zufrieden. Denn auch kleine Erfolgserlebnisse motivieren, wie eine von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der ASH Berlin parallel durchgeführte Befragung von Mitarbeitenden ergab. Bettig: „Die Zufriedenheit der Pflegekräfte steigt, wenn sie messbare Erfolge ihrer Arbeit sehen. Wenn Pflegebedürftige über das Coaching wieder laufen lernen, nicht mehr stürzen und vielleicht sogar nach Hause zurückkehren können. Es gibt daher auch kaum Personalfluktuation in den von uns befragten Häusern.“

Und wie geht es nach Ablauf der Förderung mit CarePerform weiter? Ideal wäre es nach Ansicht von Uwe Bettig, die Teilnehmenden längerfristig regelmäßig zu befragen. So könnte überprüft werden, ob sich die Ergebnisse der Studie verstetigen und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dauerhaft fit und mobil bleiben. Berlin bietet für Projekte wie CarePerform ausgesprochen gute Voraussetzungen. „Unter den vielen herausragenden Forschungseinrichtungen vor Ort findet man leicht Projektpartner“, so der Brain City Botschafter. Auch die Praxiseinrichtungen in Berlin seien der Wissenschaft gegenüber sehr aufgeschlossen. „In unserem Fall kam die domino-coaching Stiftung mit einer spezifischen Fragestellung auf uns zu. Daraus hat sich dann ein tolles Projekt entwickelt, von dem auch unsere Studierenden durch Abschlussarbeiten und als studentische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr profitiert haben. So etwas ist fantastisch – und typisch Berlin!“

Autorin: Ernestine von der Osten-Sacken 

Brain City Botschafter Prof. Dr. Uwe Bettig, wissenschaftlicher Leiter des Projekts CarePerform. © Edgard Berendsen

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