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© Magnus Reed
13.09.2022Jess de Jesus de Pinho Pinhal, Technische Universität Berlin
Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb sowie am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin (TU Berlin) arbeitet die Brain City-Botschafterin ausgesprochen interdisziplinär und setzt sich kritisch mit neuen Technologien wie Künstlicher Intelligenz auseinander.
Ich zeige, wie die Gesellschaft die Technologie formt und wie die Technologie im Gegenzug die Gesellschaft formt.“ Jess de Jesus de Pinho Pinhal ist Technikethikerin. Und als solche erforscht sie unter anderem die „Nicht-Neutralität“ und die Kontingenz neuer Technologien. „Die Stärken meiner Forschung liegen in ihrem kontextualistischen Ansatz und in ihrer kritischen Unnachgiebigkeit. Indem ich zeige, welche Werte in die Algorithmen eingebettet sind, die sich der öffentlichen Kontrolle entziehen, durchbreche ich das Narrativ der objektiven Wissenschaft und Technologie“, sagt die Brain City-Botschafterin. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin ist sie gleich an zwei Einrichtungen beschäftigt: am Institut für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb sowie am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte. Sie vereint damit Interdisziplinarität nicht nur in ihrer Forschung, sondern auch in der eigenen Person.
Dabei reizt es sie besonders, bestehenden Normen zu identifizieren und zu verorten, die neue Realitäten formen; ebenso wie neue Normen, die durch diese Veränderungen entstehen. „Die Kontextualisierung dieser Normen ermöglicht es, über (bessere) Alternativen nachzudenken. Der für mich interessanteste Aspekt ist dabei, das Kontingente (das Zufällige oder Angrenzende, Anm. d. Red.) vom Notwendigen zu trennen. Wir neigen dazu, zu denken, dass wir nicht anders können; gefangen im ‚Fortschrittszug‘. In Wirklichkeit gibt es viele andere Möglichkeiten. Aber unser kultureller Hintergrund und unsere Gewohnheiten hindern uns daran, die meisten von ihnen zu sehen,“ erläutert Jess de Jesus de Pinho Pinhal.
Den dafür elemantaren Bezug zur Praxis bringt die junge Wissenschaftlerin mit: „Nach dem Master of Science in Allgemeinen Ingenieurswissenschaften und Telekommunkations-Physik in Straßburg, habe ich als Software-Ingenieurin gearbeitet und zwischendurch meinen BA in Philosophie in Nizza gemacht. Danach habe ich Tech-Start-ups bei der Entwicklung neuer Anwendungen und Produkte geholfen. Was mich wirklich damals schockiert hat, war die mangelnde Auseinandersetzung mit dem potenziellen Missbrauch, Fehlern und den Gefahren dieser Technologien. Entwicklerinnen und Entwickler sowie Geschäftsleute bringen dafür nicht die nötigen Fähigkeiten mit“, so Jess de Jesus de Pinho Pinhal. Andererseits säßen viele Philosophinnen und Philosophen immer noch im Elfenbeinturm. „Ihre Empfehlungen zeigen, dass sie die Technologien und die Marktzwänge, unter denen sich diese entwickeln, nicht immer vollständig verstehen. Ich dachte mir, dass ich, dank meines doppelten Hintergrunds, wirklich etwas zum Forschungsgebiet der Technikethik beitragen könnte.“
Berlin ist eine lebendige Stadt, in der sich auch Nicht-Akademikerinnen und -Akademiker, die außerhalb des Establishments stehen, äußern können. Für jemanden, der sich mit Themen wie KI-Ethik, Global Governance von Technologie und letztlich globaler Gerechtigkeit beschäftigt, macht das einen echten Unterschied.
Nach Berlin kam Jess de Jesus de Pinho Pinhal 2016. Zunächst, um hier zu studieren. „Dann entschied ich mich zu bleiben: wegen der aktiven Start-up-Szene – und weil ich mich in diese freie, tolerante und lebendige Stadt verliebt habe.“ Ihre Forschung ist interdisziplinär strukturiert – und international orientiert. „Innerhalb der TU Berlin arbeite ich mit Informatikerinnen und Informatikern zusammen, die auf KI spezialisiert sind. Außerhalb kooperiere ich mit dem Leverhulme Centre for the Future of Intelligence an der University of Cambridge und mit Forscherinnen und Forschern an verschiedenen anderen europäischen Universitäten. Zurzeit baue ich außerdem eine Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Australien auf dem Gebiet der Philosophie auf."
Ob als Wissenschaftlerin oder Privatperson: Jess de Jesus de Pinho Pinhal ist nach wie vor von der Stadt begeistert: „Berlin hat viele Universitäten, wie beispielsweise die Humboldt-Universität zu Berlin, die weltweit zu den renommiertesten Universitäten für Philosophie zählt. Aber Berlin ist auch eine lebendige Stadt, in der sich auch Nicht-Akademikerinnen und -Akademiker, die außerhalb des Establishments stehen, äußern können. Für jemanden, der sich mit Themen wie KI-Ethik, Global Governance von Technologie und letztlich globaler Gerechtigkeit beschäftigt, macht das einen echten Unterschied.“ Und noch aus einem Grund lebt die junge Forscherin gern in der Stadt: „Es gibt hier immer etwas zu tun: einen Vortrag, eine Debatte, einen Film, eine Ausstellung, einen Protest. Einfach immer!“
Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die eine Karriere in Berlin starten möchten, rät Jess de Jesus de Pinho Pinhal, sich vor allem genügend Zeit zur Orientierung zu lassen: „Es gibt viele Möglichkeiten, aber nicht alle sind gleich. Seien Sie vorsichtig mit politischen Spielchen, die im wettbewerbsorientierten Umfeld der Hochschulen häufig vorkommen. Aber Sie treffen hier auch leidenschaftliche Menschen, mit denen Sie zusammenarbeiten können!“ Wichtig ist es nach Erfahrung der Brain City-Botschafterin außerdem, das eigene Netzwerk auf den nicht-akademischen Bereich auszuweiten. „Es gibt viele interessante Menschen in Berlin!“ (vdo)