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© Michael Schaaf
19.12.2023Prof. Dr. Dr. Hürrem Tezcan-Güntekin, ASH Berlin / Berlin School of Public Health, Charité Berlin
Die Forschung von Prof. Dr. Dr. Hürrem Tezcan-Güntekin hat hohe Anwendungsrelevanz. Die Brain City Botschafterin ist Professorin für „Interprofessionelle Handlungsansätze mit Schwerpunkt auf qualitativen Forschungsmethoden in Public Health“ an der Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH Berlin) und der Berlin School of Public Health der Charité – Universitätsmedizin Berlin.
Fragt man Prof. Dr. Dr. Hürrem Tezcan-Güntekin nach ihrem Forschungsschwerpunkt, klingt die Antwort zunächst etwas kompliziert: „Ich beschäftige mich mit intersektionalen Perspektiven auf diversitätssensible Versorgung mit dem Schwerpunkt auf Alter, Rassismus, Migration, Versorgung nach Gewalterfahrungen“, sagt die Brain City Botschafterin. Die Forschungsthemen haben eine hohe Alltagsrelevanz: Hürrem Tezcan-Güntekin geht es vor allem darum, über ihre Forschung gesellschaftliche Macht- und Ungleichheitsverhältnisse zu identifizieren und sichtbar zu machen – insbesondere mit Blick auf gesundheitliche und pflegerische Versorgung. Dabei betrachtet sie auch das Zusammenwirken unterschiedlicher Diskriminierungsmechanismen.
„Ursprünglich komme ich aus dem Bereich der Wissenschaftsforschung und habe im Rahmen meiner zweiten Promotion im Jahr 2014 begonnen, mich mit migrationssensibler pflegerischer Versorgung zu beschäftigen“, so Hürrem Tezcan-Güntekin. „Im Laufe dieses Projektes und seiner Folgeprojekte kristallisierte sich schnell heraus, dass der ausschließliche Blick auf Migration einem in Public Health verbreiteten, essentialistischen Verständnis folgt und weitere Differenzmerkmale und gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht berücksichtigt“. Im Ergebnis entwickelte sie eine differenzierte, diskriminierungs- und rassismuskritische, intersektionale Perspektive. „Das Besonders an meiner Arbeit ist aber auch, dass ich in meinen Projekten mit einem interdisziplinär aufgestellten und diversen Team arbeite und nach Möglichkeit Menschen aus den Communities partizipativ einbinde.“
Beispiele für aktuelle Projekte, die Hürrem Tezcan-Güntekin an der ASH Berlin leitet, sind etwa das BMBF-geförderte Projekt „Rassismen in der Gesundheitsversorgung – RiGeV“, in das auch die Universität Witten/Herdecke und die Hochschule Fulda eingebunden sind. Das vom IFAF-geförderte Forschungsvorhaben „Intersektionale Perspektiven auf Erstversorgung nach Erleben sexualisierter Gewalt und Gewalt im sozialen Nahraum“ wiederum leitet sie in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin). Konsortialpartner des Projekts „Entwicklung und Evaluation eines diversitätssensiblen Online-Selbsthilfe-Angebots zur Stärkung des Selbstmanagements am Beispiel von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund – Diversity On“ sind die Universität Witten/Herdecke und der Demenz-Support Stuttgart. Zurzeit ist Hürrem Tezcan-Güntekin außerdem in die Erstellung des Neunten Altersberichtes der Bundesregierung eng eingebunden.
„Sehr gute Vernetzung, Nähe zu politischen Prozessen, tolle Teams, kurze Wege zur Praxis, ein innovatives Umfeld und eine große Diversität – Berlin bietet mir ein ideales Arbeitsumfeld“, sagt Hürrem Tezcan-Güntekin. Dass sie sich so für die Brain City Berlin begeistert, liegt allerdings auch daran, dass sie in Berlin-Schöneberg geboren ist. „Weshalb bin ich damals aus Berlin weggezogen und doch wieder hierher zurückgekehrt? Der Grund war, dass ich mich schon während meines Studiums der Soziologie und Erziehungswissenschaften an der Technischen Universität Berlin sehr stark auf den Forschungsbereich der Medizinsoziologie konzentriert hatte. Das Feld, in dem ich mir meine Promotion vorstellen konnte, war daher sehr eng. Innerhalb eines Jahres nach Abschluss meines Studiums gab es in Berlin für mich keine Möglichkeit, daher bewarb ich mich 2006 weg.“
Sehr gute Vernetzung, Nähe zu politischen Prozessen, tolle Teams, kurze Wege zur Praxis, ein innovatives Umfeld und eine große Diversität – Berlin bietet mir ein ideales Arbeitsumfeld.
Ihr weiterer beruflicher Weg führte Hürrem Tezcan-Güntekin zunächst in die Wissenschafts- und Technikforschung an der Universität Bielefeld. „Hier schloss ich eine erste Promotion in Soziologie ab. Danach war ich in unterschiedlichen Forschungseinrichtungen in Tübingen, Dortmund, Jülich und Bielefeld tätig. Kurz vor Abschluss meiner zweiten Promotion in Public Health folgte ich 2017 dem Ruf auf eine Professur an der ASH Berlin und kehrte zurück in meine Heimatstadt“, erinnert sich Hürrem Tezcan-Güntekin und ergänzt: „Während ich früher in Berlin auch viel in der Clubszene unterwegs war, brauche ich mittlerweile sowohl das intensive Leben der Großstadt als auch das ruhige Landleben. Daher habe ich aktuell zwei Wohnsitze – einen in Berlin und einen auf dem Land.“
Jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die nach Berlin kommen möchten, rät Hürrem Tezcan-Güntekin, sich bereits im Vorfeld gut zu vernetzen. „Interessante Kontakte auf Konferenzen anzusprechen oder sie anzuschreiben und um ein Gespräch zu bitten, sind gute Anknüpfungsmöglichkeiten“, so die Brain City Botschafterin. Zu bedenken sei allerdings, dass die Anbahnung von Freundschaften in Berlin in der Regel länger dauere als anderswo, „weil hier grundsätzlich eine Stimmung der Unverbindlichkeit herrscht“. Einen langen Atem zu haben und ein ausgewogenes Verhältnis von intrinsischer Motivation und einer guten Work-Life-Balance mitzubringen, sei deshalb in jedem Fall hilfreich. Ebenso empfehle es sich, einen Plan B in petto zu haben „falls die Wissenschaftskarriere nicht funktioniert, sprich die Höchstbefristungsdauer laut Wissenschaftszeitvertragsgesetz schneller erreicht ist als der Ruf auf die erste Professur“, so Hürrem Tezcan-Güntekin. „Das gilt allerdings überall in Deutschland, nicht nur in Berlin!“ (vdo)