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© Min Kim
02.01.2023Prof. Dr. Ariane Jeßulat, Universität der Künste Berlin
Brain City-Botschafterin Prof. Dr. Ariane Jeßulat ist Erste Vizepräsidentin der Universität der Künste Berlin (UdK Berlin). Als Musikwissenschaftlerin und Musiktheoretikern und Künstlerin verbindet Sie Erfahrungen aus zwei parallelen Karrieren.
Musik, Philosophie und Sozialwissenschaften fließen in der Forschung von Ariane Jeßulat zusammen. „Ich habe vor 20 Jahren mit Arbeiten darüber begonnen, ob Spuren von Erinnerung und erinnernder Rekonstruktion in Musik ausgemacht werden können. Heute beschäftige ich mich mit Polyphonie (Vielstimmigkeit, Anm. d. Red.) als Schnittstelle zwischen Kunst und Gesellschaft.“
Besonders interessiert die Musikwissenschaftlerin und Musiktheoretikerin dabei, Künste zwar als autonom, aber nicht als abgesonderte Welt zu verstehen. Ein Ansatz, der lange Zeit nicht selbstverständlich war. „Dass in den Künsten menschliches und gesellschaftliches Handeln sichtbar wird, das Einsichten in die Verkettungen sozialer und ästhetischer Fragen ermöglicht, finde ich äußerst spannend“, so Ariane Jeßulat. „Zugleich sehe ich in meiner Forschung auch die Chance, vergangene künstlerische Praxis und unsere heutige Auseinandersetzung mit ihr lebendig und im kritischen Austausch mit der Gegenwart zu erhalten.“ Neben ihrer wissenschaftlichen Karriere arbeitet die Brain City-Botschafterin als experimentelle Musikerin und Performerin. Über diese Parallel-Karriere eröffneten sich ihr zwei ursprünglich sehr unterschiedliche Zugänge zu ihrer Forschung: „Als Wissenschaftlerin bin ich meinen Interessen lange gefolgt, ohne dass es meine eigene künstlerische Praxis als Performerin im Ensemble für experimentelle Musik und experimentelles Musiktheater jemals berührt hätte. Erst nachdem ich 25 Jahre lang zwei parallele Karrieren verfolgt habe, fiel mir auf, dass zentrale Fragestellungen zusammengehören.“
In Berlin geboren und aufgewachsen, war es für Ariane Jeßulat selbstverständlich auch in Berlin zu studieren: an der Hochschule der Künste Berlin (heute UdK Berlin) und der Freien Universität Berlin (FU Berlin). Im Jahr 2000 schloss sie eine Promotion an der UdK an und 2011 habilitierte sie sich an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU Berlin). „Ich habe nach dem Studium relativ lange und intensiv an der UdK Berlin und der HU Berlin gearbeitet. Es war aber auch ein Privileg, elf Jahre als Professorin in Würzburg tätig zu sein, wo die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen der Hochschule für Musik und der Universität ganz fantastisch waren.“ Letztendlich vermisste Ariane Jeßulat aber die Berliner Kulturszene – und die Chancen, die sich ihr hier in der zeitgenössischen Musik boten. 2015 kehrte sie daher als Professorin für Musiktheorie an die UdK Berlin zurück; seit 2020 ist sie außerdem Vizepräsidentin der Universität.
Die Brain City Berlin bietet Ariane Jeßulat als Wissenschaftlerin ebenso wie als Künstlerin viele Vorteile: „Berlin ermöglicht das Forschen in innovativen Bereichen, die wegen ihrer Neuheit und Risikofreude noch nicht Kanon geworden sind. Es ist sogar so, dass die immanente Aufforderung der Stadt, innovativ zu sein, nachhaltig dazu anhält, diesen Begriff immer wieder zu überdenken. Die Bereitschaft und Akzeptanz, fremde und nicht immer sofort nach gewissen Klischees von ‚Exzellenz‘ schreiende Wege zu gehen, ist in Berlin – von der freien Szene bis hin zu den traditionsbewussten Institutionen – sehr ausgeprägt.“
Berlin hat eine unvergleichlich gut vernetzte wissenschaftliche und künstlerische Infrastruktur, die in ihrer Heterogenität und Spontaneität extrem kreativ ist. Die Schwellen zwischen der Stadt, den jeweiligen Szenen und den verschiedenen Institutionen sind niedrig.
Eng vernetzt arbeitet Ariane Jeßulat nach wie vor mit der FU Berlin und der HU Berlin zusammen. Zum Beispiel über den Sonderforschungsbereich 1512 „Intervenierende Künste“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der kunstbezogene Disziplinen mit Philosophie, Geschichte, Soziologie und Kulturanthropologie verbindet. Auch mit der Technischen Universität Berlin ist sie über den Campus Charlottenburg und das Climate Change Center Berlin Brandenburg in Projekten wissenschaftlich verbunden. Und als Künstlerin ist sie ebenfalls nach wie vor aktiv: Als Mitglied des Ensembles des experimentellen Musiktheaters „Die Maulwerker“ – und als Leiterin eines Improvisationsensembles für mehrstimmige Vokalimprovisation im Stil der Renaissance. „Die Zusammenarbeit mit Berliner Veranstaltungsorten bietet wegen der Freude am Experiment und dem großen Respekt, der Künstlerinnen und Künstlern hier entgegengebracht wird, immer wieder große Chancen. Die UdK selbst ist mit ihren zahlreichen Vernetzungen mit den unterschiedlichsten Kultureinrichtungen ein hervorragender Ort zur Durchführung inter- und transdisziplinärer Projekte.“
Die Frage nach einem Tipp für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beantwortet Ariane Jeßulat sehr bedacht: „Jede Generation von Forscherinnen und Forschern hat ja ihre ganz eigenen Bedingungen. Aktuell prägen Krieg, Inflation, Pandemie und die globale Lage die Situation. Wir stehen vor Problemen und Herausforderungen, die mit denen des späten 20. Jahrhunderts nicht vergleichbar sind. Es fällt allerdings auf, dass Themen wie Fairness, Zusammenarbeit und gute Arbeit heute sichtbarer sind als damals.“ Ihr Ratschlag an junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lautet daher, diese Themen auch für die eigenen Arbeitsbedingungen und sich selbst gegenüber aktiv umzusetzen. „Selbstausbeutung oder der Versuch, die eigenen Bedürfnisse unsichtbar zu machen, sind höchstwahrscheinlich eine Sackgasse.“
Berliner Infrastrukturen erlaubten allerdings vergleichsweise unkomplizierte, über die einzelnen Institutionen hinausgehende Studien- und Projektplanungen – bereits ab der Bachelor- und Masterebene. „Meine Erfahrungen, Forschungsinhalte erfolgreich zusammenführen zu können, die institutionell, aber auch disziplinär zunächst disparat aussahen, waren in Berlin durchweg positiv“, so Ariane Jeßulat. Und sie fügt noch einen weiteren Pluspunkt der Stadt hinzu: „Die Wahrscheinlichkeit, dass Ideen gehört werden, ist in Berlin sehr groß!“ (vdo)