Prof. Dr. Tamer Boyaci
ESMT European School of Management and Technology

Brain City Berlin Botschafter: Prof. Dr. Tamer Boyaci (ESMT European School of Management and Technology)

 

Prof. Tamer Boyaci lehrte fast 18 Jahre als Professor an der renommierten McGill University in Kanada. Nachdem er 2015 nach Berlin gezogen und der ESMT als Professor für Betriebswirtschaftslehre beigetreten ist, wurde er bereits Forschungsdirektor und Inhaber des Michael Diekmann-Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre.

 

  

Interview

Brain City Berlin: Könnten Sie bitte den Kernpunkt Ihrer Forschung beschreiben?

Prof. Boyaci: Mein Hintergrund liegt in der Unternehmensforschung. Grundsätzlich haben wir komplizierte Probleme oder Herausforderungen durch mathematische und rechnergestützte Nachweise gelöst. Wir haben diverse Tools wie die mathematischen Modellierungstools, Lösungstools, Optimierungstools, und diese wenden wir auf unterschiedliche Probleme an. Dabei könnte es um das Lösen von Problemen aus dem Gesundheitswesen gehen, oder wie man Prozesse im Gesundheitswesen – in Kliniken beispielsweise – lösen könnte, indem man sich die Abläufe dort ansieht und die Zeiten für den Patienten optimiert. Es könnte sich um ein Problem handeln, für das sich ein Wissenschaftler aus dem Management interessieren könnte. Oder wie man bei Organtransplantationen die Zuteilung des Organs so effektiv und fair wie möglich gestaltet. Sie schauen sich die unterschiedlichen Bedürfnisse an und versuchen das zu finden, was dem genannten Beispiel am Ehesten gerecht wird. Manchmal nennen die Leute die Management Science die „Wissenschaft des Besseren“, wie man also Dinge besser macht. Im großen Ganzen sind wir aber Optimierer. Wir öffnen unseren Werkzeugkasten und versuchen in Abhängigkeit des Problems eine abstrakte Version dessen in einer mathematischen Welt zu formulieren oder aufzubauen, und versuchen dann, dafür Lösungen zu finden

 

Brain City Berlin: Wir haben Sie sich für Ihr Forschungsfeld entschieden? Was fasziniert Sie daran?

Prof. Boyaci: Ich denke, dass einer der Hauptgründe für meine Entscheidung, Akademiker zu werden, der ist, dass ich von den großen Professoren stets sehr beeindruckt war, die mir die Grundlagen dieses Bereichs beigebracht haben. Ich glaube, da hat es mich auch am meisten inspiriert – ich erinnere mich daran noch sehr gut. Ich studierte Wirtschaftsingenieurwesen und wurde mit Anwendungen oder Tools in Kontakt gebracht, die sich beispielsweise mit industriellen Prozessen, der Produktionsplanung und Optimierung am Band beschäftigt haben, und fand das unheimlich faszinierend. Ich war immer jemand, der versucht hat, Probleme zu lösen. Das war für mich also etwas ganz Natürliches. Mein Bereich beschäftigt sich mit der Problemlösung, was sich aber nicht wiederholt. Sie können etwas in die unterschiedlichsten Probleme unterteilen und werden niemals gelangweilt sein, weil es so viele Dinge zu lösen gibt und man ständig mehr dazulernt. Bis heute erlerne ich ständig neue Tools, die es mir ermöglichen, mit unterschiedlichen Problemen umzugehen. Ich habe kürzlich an einer Situation gearbeitet, bei der es darum ging, wie Personen in kurzer Zeit mit wenig Aufmerksamkeit und eingeschränkter kognitiver Kapazität Entscheidungen oder eine Auswahl treffen. Das ist ein Bereich, der sich bis zu einem gewissen Grad in der neurowissenschaftlichen Entscheidungsfindung, der Informationstheorie, in Informationsbeschränkungen, der Wirtschaft und der Frage der Auswahl bewegt.

 

Brain City Berlin: Arbeiten Sie für die Anwendungen mit Unternehmen zusammen oder ist Ihr Ansatz eher theoretischer Natur?

Prof. Boyaci: Mein Ansatz ist theoretischer Natur, sodass nicht notwendigerweise Daten oder Anwendungen erforderlich sind. Meine Forschung ist allgemein, sodass ich sie auf unterschiedliche Geschäftsfelder anwenden kann und sie sich dennoch stets weiterentwickelt. Wenn wir eine Theorie haben, ist für uns der nächste Schritt, diese zu testen. Zunächst einmal müssen wir den Test in einer Laborumgebung durchführen. Funktionieren unsere Prognosen wirklich so, dass sie widerspiegeln, was Menschen tun? Sobald wir diese Entsprechung vorliegen haben, können wir echte Daten nutzen und sie noch anwendbarer gestalten, beispielsweise in Form von direkt anwendbaren Entscheidungen. Hierbei könnte es sich um Entscheidungen zur Preisgestaltung handeln. Die wichtigste Frage ist jedoch, was ich Ihnen anbieten sollte, da Sie sich die ganzen Informationen nicht ansehen möchten und sollen. Sollte ich Ihnen nur ein paar Optionen mit vielen Informationen vorlegen, oder viele Optionen mit wenig Informationen dazu? Das alles sind Kompromisse, die wirtschaftlich orientierte Unternehmen eingehen – nicht nur in der Mobilfunk- oder Kamerabranche. Ein weiteres Problem in der Online-Welt ist heutzutage, dass sich niemand mehr wirklich die zweite Seite der Suchergebnisse anschaut. Es gibt auch zahlreiche neurowissenschaftliche und psychologische Forschungen, die beispielsweise die Augenbewegungen verfolgen und zum Ergebnis kommen, dass Personen beim Blicken auf einen Computerbildschirm eine ziemlich kleine Bandbreite besitzen.

 

Brain City Berlin: Führen Sie Forschungen selbst durch oder besitzen Sie ein interdisziplinäres Team?

Prof. Boyaci: Wir beziehen Informationen von anderen Teams, und das tatsächlich unfassbar wichtig. Wir können somit einen formellen Weg strukturieren, um all diese Elemente zusammenfassen und sie zu nutzen, um Prognosen darüber zu treffen, welche Auswahl getroffen wird. Das ist grob gesagt zum Teil das, was ich tue. Der andere Teil bezieht sich auf die konjunkturelle Belebung, sodass ich mich auch stets sehr für die soziale Seite der Geschäftswelt interessiert habe. Ich sehe das Geschäft nicht nur im Sinne der Maximierung von Unternehmensgewinnen. Offensichtlich haben Geschäftstätigkeiten auch starke Auswirkungen auf die Umwelt, sodass sich die Frage stellt, wie wir diese minimieren können – beispielsweise den Beitrag an Kohlenstoffemissionen durch die Lieferung mittels Lastkraftwagen. Wir schauen uns besonders industrielle Domänen an, die dazu einen sehr großen Beitrag leisten. Eine davon ist die Elektroindustrie, die der am schnellsten wachsende und auch gefährlichste Abfallproduzent ist. Nach einem Jahr bekommen wir bereits ein neues Mobiltelefon und haben schon wieder einen neuen Laptop. In der Vergangenheit wurde dafür Blei und Quecksilber benutzt, was sehr umweltschädlich ist. Das reine Volumen davon ist bereits etwas, das jedem von uns Sorgen bereiten sollte. Wie minimieren wir die Umweltauswirkungen bei den vorhandenen Kosten für die Rückgewinnung, wie motivieren wir die Endverbraucher, Recycler, Originalhersteller und Händler, und wie richten wir ein solches System ein?

 

Brain City Berlin: Nachdem Sie in Kanada, der Türkei und den USA gearbeitet haben, kamen Sie 2015 nach Berlin. Warum haben Sie Berlin als nächsten Karriereschritt ausgewählt?

Prof. Boyaci: Einer der wichtigen Aspekte von Berlin ist, dass sie in ihrem Kern eine lebendige und sich entwickelnde Stadt ist. Sie ist innovativ, ist Heimat vieler Events, Startups und anderer Branchen – und ich bin der Ansicht, dass es für mich auch die richtige Zeit war, eine Veränderung in meiner eigenen Karriere herbeizuführen, und Teil einer sich entwickelnden, dynamischen Institution zu sein, die das Gegenteil von dem ist, wo ich mich zuletzt aufgehalten habe. Hier gibt es eine starke intellektuelle Gemeinschaft. Am ESMT sind wir sehr flexibel, und diese Struktur mag ich. Berlin an sich ist international, das war ein großer Anreiz für mich. Berlin ist sehr kosmopolitisch, sehr lebendig und strahlt enorme Energie aus. Menschen, zu denen ich eine Verbindung habe, sind über die ganze Stadt verteilt. Es gibt Jugend, Veränderung, Leben, es gibt künstlerische Veranstaltungen, unternehmerische Aktivitäten, kulturelle Angelegenheiten und es gibt Industrie. Ein weiterer Lifestyle-Aspekt des Lebens in einer Großstadt ist, dass ich mir einfach mein Fahrrad schnappen und damit zur Arbeit fahren kann. Es gibt sehr kulturelle Städte, aber oft gefällt einem irgendein Aspekt nicht. Berlin aber hat alles – das ist wirklich außergewöhnlich. Das liegt nicht nur daran, weil es eine dynamische, junge Stadt ist. Es gibt Kunst, kulturelle Dinge, Musik, es gibt intellektuelle Aktivitäten, soziales Leben und wenn man all das zusammenpackt, bietet die Stadt eine einzigartige Kombination, die nur sehr schwer zu finden ist. Es gibt nur wenige Städte, die all diese Vielfalt und Heterogenität bieten.

 

Brain City Berlin: Arbeiten Sie mit anderen Universitäten oder Institutionen zusammen?

Prof. Boyaci: Berlin hat viele Universitäten und viele Institutionen. Ein Teil meiner Arbeit bezieht sich auf Verhaltensökonomik und einige der großartigen Verhaltensökonomen befinden sich hier. Hier passiert viel Kommunikation über die unterschiedlichsten Kanäle, aber ich habe noch nicht mal die Hälfte von allem entdeckt, weil es so vielseitig ist. Es gibt sehr interdisziplinäre Universitäten und Institutionen. Jedes Mal, wenn wir neue Mitarbeiter einstellen, sind sie positiv überrascht. Viele wissen nicht einmal, dass es mitten im Berliner Netzwerk diese anderen Institutionen und Zentren gibt. Das ist meiner Meinung nach die Natur der Stadt Berlin: zu wissen, dass es Personen gibt, mit denen ich reden und interagieren kann, ist allein schon großartig, selbst wenn man diese Möglichkeit noch nicht einmal ausschöpft. Es ist doch eine Frage der Zeit. Projekte zu entwickeln dauert. Leute aus meinem Netzwerk leben in Deutschland und Europa, waren aber noch niemals in Berlin. Für gewöhnlich halten sie sich in anderen Teilen Europas auf. Wenn man aus dem Ausland kommt und international eingestellt ist, dann muss man sich langsam anpassen. Das braucht Zeit.